Gillian Shields - Der Zauber der Steine
»Evie?«
»Ich kann noch etwas versuchen.« Sie zog ihren Talisman über den Kopf. Der Kristall glitzerte im Licht der Taschenlampe und schaukelte an der Silberkette hin und her. Lady Agnes hatte all ihre Macht und ihre Liebe für Sebastian in dieses glänzende Herz eingeschlossen. Evie hielt das Amulett nach oben und sagte: »Agnes, meine Schwester und Ahnin, ich rufe deine Energie und deine Weisheit an. Hilf uns! Wenn es dein Wille ist, öffne diese Tür für uns.«
Irgendwie ahnte ich bereits, dass nichts passieren würde. Vielleicht war Evies Beschwörung zu halbherzig. Vielleicht war Lady Agnes nicht willens oder nicht mehr fähig, uns zu helfen. Oder vielleicht war es einfach nur nicht der richtige Moment. Wir mussten auf die Zeichen warten und dann für den Weg bereit sein, der uns gewiesen wurde. Alles hat seine Zeit. Davon bin ich überzeugt.
Evie ließ ihren Arm sinken und atmete aus. »Es tut mir leid. Ich habe die Orientierung verloren.«
»Aber im letzten Halbjahr hat es doch auch geklappt, mit dem Feuer genauso gut wie mit dem Wasser«, sagte Helen. »Du hattest den Talisman unter Kontrolle.«
»Im letzten Halbjahr war es anders!«, brach es aus Evie heraus, dann zwang sie sich zur Ruhe und atmete tief durch. »Im letzten Halbjahr war Sebastian in Wyldcliffe. Allein seine Existenz gab mir Kraft. Es tut mir leid. Ich bin dazu noch nicht wieder bereit.«
Sie legte die Kette wieder um den Hals. »Warum versuchst du es nicht, Sarah?«
Ich hatte keine Ahnung, was ich tun könnte. Meine Kräfte der Erde waren beständig und reichten tief: der Wechsel der Jahreszeiten; sie hatten mit dem Boden zu tun, mit den Geheimnissen der Pflanzen und Kräuter, mit dem Leben der Tiere, mit Blut, Knochen und Ton und mit den innersten Geheimnissen des Herzens. Ich ging zur Tür hinüber und untersuchte sie. Sie war aus weichem Holz, hier und da waren Astlöcher und Einkerbungen in der Oberfläche zu erkennen. Ich konzentrierte mich und versuchte, das Holz zu mir sprechen zu lassen, das Seufzen und Schwingen des lebendigen Baumes, der er einst gewesen war, zu hören.
»Lass mich durch«, dachte ich, dann streckte ich meine Hände aus und legte sie auf das Holz.
Ein Zittern durchlief die Tür. Ein feiner Staubwirbel stieg auf, dort, wo die Tür in der Verankerung gehalten wurde. Der Wirbel drehte sich schneller, der Staub wurde fester und rieselte wie Asche auf den Boden. Unter meinen Händen ertönte ein splitterndes Geräusch, ich taumelte nach hinten und wurde gegen Evie und Helen geschleudert.
Auf der Oberfläche des Holzes waren grobe Markierungen zu erkennen.
» HÖR AUF DIE TROMMELN «, sagten die aneinandergereihten Buchstaben.
Und darunter prangte ein einzelner Buchstabe, der aussah wie eine wütende Schlange: »S«.
Schweigend starrten wir auf die sich öffnende Tür, die den Blick frei gab auf das geheime Reich von Lady Agnes: ein antiker Schreibtisch. Purpurfarbene und scharlachrote Vorhänge. Pergamente, vergilbte Manuskripte und mit Spinnweben überzogene Gläser voller Kräuter und Gewürze. Kunstvoll geschnitzte Holzkästchen und Lederkoffer voller seltsamer Dinge. Alles Überbleibsel aus längst vergangenen Zeiten, Andenken an Lady Agnes und ihre Studien.
Helen streckte vorsichtig ihren Zeigefinger aus und strich prüfend über die Staubschicht auf beiden Seiten der Tür. »Schaut mal, das ist gar kein Staub«, sagte sie. »Das ist Erde, Sarah. Ein Zeichen. Für dich.«
Acht
Maria Melvilles Tagebuch,
Wyldcliffe, 5. April 1919
Miss Scarsdale meinte, dass das, was ich gesehen habe, ein Zeichen ist. Ein Zeichen aus der Vergangenheit, das in die Zukunft weist. Verstanden habe ich es nicht, ich weiß nur, wie ich mich gefühlt habe, als ich das erste Mal die Trommeln hörte.
Darüber kann ich nicht einmal schreiben, noch nicht.
Ich sitze in meinem Bett auf der Krankenstation und warte darauf, dass mein Knöchel endlich verheilt. Meine anderen Verletzungen und die Blutergüsse werden allmählich besser, aber es wird Tage, vielleicht sogar Wochen dauern, bis ich wieder gehen oder reiten kann. Miss Scarsdale hat Miss Featherstone gebeten, mir Schulbücher zu bringen, damit ich lernen kann, während ich hier liege, aber eigentlich möchte sie, dass ich mein Tagebuch weiterführe und alles aufschreibe, was passiert ist, seit ich in Wyldcliffe angekommen bin.
Ich werde es versuchen. Ich werde mein Bestes geben und entschuldige mich schon jetzt, falls es mir nicht gelingen sollte. Das ist meine
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