Gillian Shields - Der Zauber der Steine
du hättest es schwer gehabt im Leben?« Helen war außer sich. »Ich wurde von meiner Mutter Tag für Tag gequält, lange bevor du nach Wyldcliffe kamst, Evie. Du und Sarah, ihr habt beide eure Familien. Und du hattest Sebastian, wenigstens für eine kurze Zeit. Ihr wurdet und werdet geliebt! Und ich? Niemand … niemand hat mich je geliebt.«
Helens Gesicht war schmerzverzerrt, voller Verzweiflung sank sie gegen die Wand. Ich wollte ihr helfen, wollte sie trösten, aber sie war wie von einer unsichtbaren Mauer umgeben. Evie weinte leise vor sich hin, gefangen in ihrem eigenen Leid.
Das durfte nicht sein. Wir mussten Schwestern bleiben. »Hört auf, ihr beiden«, flehte ich, »bitte, lasst uns nicht streiten. Evie, lass das nicht zu!« Evie atmete tief ein und wischte sich die Tränen aus den Augen, dann riss sie sich zusammen und tat den ersten Schritt.
»Entschuldige, Helen, ich wollte dich nicht verletzen«, sagte sie etwas gezwungen.
»Wir lieben dich, Helen, das weißt du«, fügte ich hinzu. Ich nahm sie in den Arm, aber sie reagierte nicht. »Vergiss nicht, was Miss Scratton gesagt hat. Eines Tages wirst du jemanden finden, der dich liebt …«
»Über die Grenzen unserer Welt hinaus«, beendete Helen den Satz mit zitternder Stimme. »Ja, ich erinnere mich. Allerdings kann ich nicht sehen, wie das je geschehen soll. Aber das ist nicht so wichtig. Vergesst bitte, was ich gesagt habe. Das Zeichen auf meinem Arm ist allein mein Problem. Und ich möchte, dass du glücklich bist, Evie. Du sollst den Frieden finden, den du dir so sehr wünschst. Ich meine es ernst.«
Für den Augenblick war die alte Vertrautheit wieder da. Aber wie lange würde dieser Zustand anhalten?
Sieben
E vie seufzte. »Das Zeichen ist nicht allein dein Problem, Helen. Sarah hat Recht. Wir stecken da gemeinsam drin. Was sollen wir tun?«
Helen schüttelte resigniert den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ideen mehr. Und ich habe das Gefühl, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt.«
»Mach dir keine Sorgen«, murmelte Evie, »alles wird gut.« Aber ich spürte, dass das nur Lippenbekenntnisse waren. Aus dem Herzen kamen diese Worte nicht. Das einst so feste Band zwischen uns dreien erschien mir plötzlich schmal und brüchig. Wir standen schweigend im Dunkeln und warteten. Und wieder war es an mir, eine Lösung zu finden.
»Wir könnten einfach weggehen«, begann ich behutsam, »und so tun, als ob nichts passiert wäre. Sebastian, Agnes und den Zirkel einfach vergessen. Aber da ist das Mal auf Helens Arm. Es erschien nach diesem Traum, oder sagen wir der Vision, über Mrs Hartle, und das kann kein Zufall sein. Und ich hatte …«
Ich stockte. Aus irgendeinem Grund wollte ich ihnen nicht von meinen Träumen erzählen. Diese Alpträume, mit dröhnenden Trommeln und verzerrten Bildern, aber vor allem konnte ich den Blick aus diesen Augen nicht vergessen. Irgendjemand hatte mich fixiert, jemand, der mich bis in mein Innerstes kannte. Jemand, der mich liebte und nach dessen Lippen ich mich sehnte … Nein, das war zu intim, selbst für meine besten Freundinnen.
»Nun, wie ich schon sagte, ich glaube, dass uns jemand beobachtet«, fuhr ich fort, »und jetzt hindert uns etwas daran, Lady Agnes’ Studierzimmer zu betreten. Vergesst nicht, dass das Buch dort liegt. Warum will man uns davon abhalten, es in die Hände zu bekommen?«
»Das Buch«, sagte Helen und sah interessiert auf. »Vielleicht steht da etwas über das Mal auf meinem Arm drin. Es könnte uns weiterhelfen. Ich muss wissen, was das bedeutet.«
Sebastian hatte damals das Buch über den Mystischen Weg entdeckt, eine alte Sammlung mit überlieferten Zaubersprüchen. All die Jahre hatte es überdauert und war heute für uns von unschätzbarem Wert. Die andere Reliquie des Mystischen Weges war Evies Talisman, ein altertümliches Schmuckstück, das ihr Agnes vererbt hatte. Es war ein kunstvoll gearbeiteter silberner Anhänger, mit einem glitzernden Kristall in der Mitte, der an einer Kette um Evies Hals hing. Das Buch jedoch war in Agnes’ altem Schreibtisch versteckt, jenseits der verschlossenen Tür.
Ich blickte kurz auf die Uhr. Ein Schauder lief mir über den Rücken. Es war kalt, und wir standen bereits seit über einer Stunde in diesem finsteren Dachboden. Jede Minute länger erhöhte das Risiko, dass eine der Lehrerinnen entdeckte, dass wir nicht im Bett lagen. Bei Miss Scratton wäre das nicht so schlimm, sie würde uns verstehen und den Regelverstoß
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