Gillian Shields - Der Zauber der Steine
verstehen, was geschehen war.
In dieser frühen Morgenstunde war niemand sonst auf den Beinen. Ich versteckte mich in einer Ecke von Starlights Stall und studierte das in Leder gebundene Buch; vielleicht fand ich dort ja eine Lösung. Das Buch aus Agnes’ geheimem Studierzimmer steckte voller Geheimnisse und alter Weisheiten. Einige Passagen konnte ich nicht lesen, da sie in einer orientalischen Sprache verfasst waren. Das Buch schien zu leben, seinen eigenen Willen zu haben. Manche Seiten hafteten aneinander und verbargen so ihren Inhalt vor dem Leser, manchmal verschwand die Schrift einfach oder sie wechselte von Englisch zu Latein oder wandelte sich von Buchstaben zu mysteriösen Symbolen.
Ich blätterte sorgsam Seite für Seite um und suchte nach Hinweisen, fand aber nichts. Der einzige Eintrag, der mit Helens Mal zu tun haben konnte, war eine kurze Fußnote:
Gilt für die, die sich Hexenfinder nennen und auf den Frauenkörpern nach Makeln suchen und, wenn sie einen Makel entdecken, diese arme Seele als Dienerin des Teufels verfluchen, aus der Gesellschaft ausstoßen und töten wollen. Egal, ob Unwissenheit oder Aberglaube, so bleibt doch eine Frage: Woher stammen solche Makel? Viele Gelehrte glauben, dass sie Unglückszeichen sind, die den Tod nach sich ziehen und auf ein besonderes Schicksal hinweisen.
Ausgestoßen und getötet. War Helen gezeichnet, weil ihr ein grausames Schicksal vorbestimmt war? Gab es irgendwelche Verbindungen zwischen ihren Visionen und meinen Träumen sowie der rätselhaften Nachricht, die in die Tür von Lady Agnes’ Studierzimmer eingeritzt war? Wir waren noch keine vierundzwanzig Stunden in Wyldcliffe zurück und schon fühlte ich, wie sich eine Schlinge um uns zusammenzog und unsere Feinde nur darauf warteten, bis wir in die Falle tappten. Wir mussten zusammenhalten, wenn wir überleben wollten, so viel wusste ich immerhin.
Ich blätterte weiter und suchte verzweifelt nach einer Erklärung für die Nachricht »Hör auf die Trommeln«. Aber die Zeit wurde knapp, die Schule erwachte langsam zum Leben. Ich hörte eine Katze miauen, das Kratzen eines Rechens auf der gekiesten Terrasse und das fröhliche Plaudern zweier Mädchen, die in den Stall gekommen waren, um vor dem Frühstück nach ihren Ponys zu sehen. Schon bald würde Josh auftauchen, und ihm wollte ich auf keinen Fall begegnen. Hastig schlug ich das Buch zu und versteckte es unter dem Stroh in der Ecke der Box. Vor langer Zeit hatte ich dort auf dem Boden einen losen Ziegelstein entdeckt, den man herausnehmen konnte. Ein ideales Versteck. Anfangs hatte ich hier Süßigkeiten und meine ersten Tagebücher versteckt, jetzt deponierte ich das Buch in der schmalen Öffnung. Ich verließ den Stall und ging dem neuen Tag entgegen.
An diesem ersten Morgen des neuen Schuljahrs war die Stimmung heiter und optimistisch. In der Pause saßen die Schülerinnen draußen auf der großen Terrasse, von der aus man auf den See blicken konnte, und diskutierten aufgeregt über die Veränderungen, die Miss Scratton angekündigt hatte.
»Hat sie wirklich von neuen Computern gesprochen?«
»Und sogar ein Tanzabend!«
»Der Freund meines Bruders geht nach St. Martins’, die Jungs dort sollen echt heiß sein! Ich kann’s immer noch nicht glauben …«
Allein die arroganten Snobs wie Celeste van Pallandt und ihre verklemmte Freundin India Hoxton sahen die Sache ganz anders und stimmten nicht in die allgemeine Begeisterung ein.
»Meine Mutter meint, dass die Standards in Wyldcliffe in der letzten Zeit wirklich gelitten haben«, verkündete Celeste all jenen, die es hören wollten. »Diese geschmacklose Publicity wegen Mrs Hartles Ableben im letzten Halbjahr und jetzt all diese Veränderungen.«
»Von Verbesserungen kann man da wohl nicht sprechen, oder?«, pflichtete ihr India bei.
»Und die Idee mit den Dorfkindern auf unseren Tennisplätzen und in unserem Pool? Abscheulich. Ich denke ernsthaft darüber nach, im nächsten Halbjahr nach Chalfont Manor zu wechseln.«
»Nun, das wäre tatsächlich eine Verbesserung«, meinte Evie, und einige Mädchen lachten. Celeste drohte ihre Machtposition in der Klasse zu verlieren. Jetzt drehte sich alles um Velvet. Jede wollte neben ihr sitzen, mit ihr befreundet sein und Neuigkeiten über ihre berühmte Familie erfahren. Velvet schwelgte in ihrer Popularität und erzählte immer wüstere Geschichten über Musiker und Schauspieler, die sie kannte, über Drogen- und Alkoholexzesse bei Partys in L. A.
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