Gillian Shields - Der Zauber der Steine
protestierte Evie, aber ich wollte nichts mehr hören.
»Und was ist mit Helen?«, fragte ich weiter. »Ist sie dir völlig egal? Sie wurde als Opfer ausgewählt, und wir müssen sie beschützen. Hast du auch mal daran gedacht? Wir haben nicht einmal den Talisman, wenn du die Schwesternschaft verlässt.«
»Nehmt ihn! Nehmt ihn doch einfach!« Evie warf mir die silberne Kette vor die Füße. Sie schien innerlich zu lodern und zitterte vor Wut. »Hier, du kannst den Talisman haben. Ich will ihn nicht mehr. Ist es das, was du willst? ›S‹ wie Sarah. Das stand doch auch auf der Tür, oder nicht? Also los, nimm ihn. Jetzt liegt es an dir.«
Damit ließ sie uns einfach stehen. Unser Bund war zerstört.
Ich ging vom Fenster weg zu meinem Bett und griff unter das Kopfkissen. Der Talisman war immer noch da. Ich konnte ihn spüren, kalt und schwer. Obwohl mich der schreckliche Streit mit Evie nicht losließ, konnte ich mich der Faszination des Amuletts nicht entziehen. ›S‹ für Sarah. Vielleicht war das der Lauf der Dinge? Vielleicht war das mein Schicksal? Ich zog mich an, ließ die Kette in meine Tasche gleiten und ging zur Tür.
Als ich den Waschraum am Ende des Flurs erreicht hatte, ging ich hinein und schloss die Tür hinter mir ab. Hier gab es wenigstens einen Spiegel über dem Waschbecken, nicht groß, aber immerhin. Wyldcliffe war strikt gegen jede Form der Eitelkeit. Wir durften kein Make-up und keinen Schmuck tragen, aber vielleicht würde Miss Scratton das auch noch ändern. Im Spiegel konnte ich verfolgen, wie ich mir die Kette um den Hals legte.
Was hatte ich erwartet? Dass mich der Talisman in eine Prinzessin verwandeln würde? Es geschah gar nichts. Das Amulett lag kalt und schwer auf meiner Brust. Ungekämmt und mit schläfrigen Augen sah ich aus wie eine Zehnjährige, die sich den Schmuck ihrer Mutter umgehängt hatte. Verbissen legte ich meine Hand auf den Kristall und flüsterte: »Agnes … Agnes …« Aber nichts geschah.
Warum sollte es auch? Ich war nicht Evie, und der Talisman gehörte mir nicht. Ich hatte keine Verbindung zu Agnes. Er war nicht für mich gedacht.
Alles ist miteinander verbunden , schien eine Stimme in meinem Kopf zu sagen. Ein Bild tauchte vor meinem inneren Auge auf: ein Mädchen mit wehenden dunklen Locken, das auf einem stämmigen Pony über die Moors ritt. Ich umfasste das Amulett noch fester und sagte laut: »Maria, ich bin’s. Sarah.«
Einen kurzen Moment loderte der Kristall gleißend hell auf, und entsetzt ließ ich ihn los. Die Haut auf meiner Handfläche war rot und brannte. Was ging hier vor? War Maria mit Agnes verbunden? Das konnte nicht sein. Zwar war Maria Schülerin in Wyldcliffe gewesen, doch die Abteigebäude waren erst nach Agnes’ Tod zum Internat geworden. Aber warum hatte der Talisman bei ihrem Namen dann so stark reagiert?
Es klopfte an der Tür.
»Komme schon«, rief ich, dann riss ich mir die Kette vom Hals und ließ sie in meine Tasche gleiten. Der Weg in die Hölle , so hatte das Buch gewarnt. Ich wollte unbedingt mehr über Maria wissen, aber der Talisman gehörte mir nicht. Ich hatte kein Recht, seine Geheimnisse zu erforschen, nur weil ich neugierig war. Immer wenn Evie die magischen Kräfte des Erbstücks genutzt hatte, war es mit großen Opfern verbunden gewesen. War ich bereit, ein solches Opfer zu bringen? Und zweitens: Wenn Celia Hartles Geist durch unsere Beschwörung in Schach gehalten würde, warum sollte ich dann tiefer in Geheimnisse eindringen, die man besser ruhen ließ?
Ich wickelte den Talisman in einen dicken Schal und versteckte ihn in der hintersten Ecke meiner Nachttischschublade. Ich würde ihn nicht mehr anrühren. Lass ihn da liegen, lass ihn einfach in Ruhe , dachte ich. Im Moment jedenfalls.
Helen, Evie und ich gingen uns in den folgenden Tagen aus dem Weg, so wie es uns Miss Scratton geraten hatte. Helen lächelte mir flüchtig zu, wenn wir das Klassenzimmer betraten, aber Evie schaute mich nicht einmal an. Unser Streit quälte mich, besonders, weil ich mich für das schämte, was ich ihr alles vorgeworfen hatte. Ich fühlte, dass unsere Freundschaft bis in die Grundfesten erschüttert war, und wünschte mir so sehr, ich könnte sie wieder heilen. Aber Evie blieb distanziert und hielt weiter Abstand. Jede freie Minute verbrachte sie in den Ställen. Nicht wegen der Pferde, das wusste ich. Es war Josh, der sie anzog.
Es ließ sich nicht vermeiden, den beiden zu begegnen, denn auch ich sah jeden Tag nach meinen
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