Gillian Shields - Der Zauber der Steine
dachte ich daran, dass Maria genau das Gleiche erlebt hatte, als sie vor vielen Jahren Schülerin der Abteischule gewesen war, hinter den altehrwürdigen Mauern inmitten derselben grünen Hügel.
Bestimmt würde es auch hier in Wyldcliffe Erinnerungen an Maria geben. Überall in den Fluren und Klassenräumen hingen vergilbte und verstaubte Fotografien, die Einblicke in die Schulgeschichte gaben. Fotos von früheren Lacrosse-Teams, von Picknicks, von längst verstorbenen Lehrerinnen und sogar die Aufnahme eines deutschen Kampfflugzeugs, das im Zweiten Weltkrieg auf dem Sportplatz abgestürzt war. In der Eingangshalle gab es ein verblichenes sepiafarbenes Foto der allerersten Schülerinnengeneration in Wyldcliffe. Es stammte aus dem Jahre 1893 und zeigte etwa ein Dutzend ernst dreinblickende, gut frisierte junge Damen in langen schweren Röcken und schwarzen Knopfstiefeln.
Ich versuchte herauszufinden, wann genau Maria Schülerin in Wyldcliffe Abbey gewesen war. Aus unserer Familienchronik hatte ich erfahren, dass es kurz nach dem Ersten Weltkrieg gewesen sein musste, den ihre Generation noch den »Großen Krieg« genannt hatte. Ich hatte zwar keine Ahnung, was ich genau herausfinden wollte, aber die Detektivarbeit gab mir neue Motivation. Am nächsten Sonntag nach der Kirche ging ich in die Bibliothek und durchforstete das Archiv. Wie Miss Scratton betont hatte, war Wyldcliffe stolz auf seine lange Geschichte, die von akribischen Bibliothekarinnen fein säuberlich in Fotos und Dokumenten archiviert worden war. Gebundene Jahrgänge von Schülerzeitungen mit gefühlvollen Gedichten, Aufsätzen, Prüfungsberichten und den Namen der Gewinner von Wettbewerben. Ich suchte und suchte, doch Marias Namen konnte ich nirgends finden. Bis mir plötzlich etwas ins Auge sprang. In einem Band aus dem Jahre 1919.
Am unteren Ende einer Seite über Naturbeobachtungen und Erste-Hilfe-Tipps gab es eine kleine Rubrik mit dem Titel »Neuigkeiten«. Hier wurden Ereignisse aufgelistet, die damals für die Mädchen von großer Wichtigkeit gewesen waren: die Geburt kleiner Kätzchen im Stall, die Anschaffung eines neuen Klaviers für die älteren Schülerinnen, ein französischer Gedichtwettbewerb. Und dann, ganz am Ende stand zu lesen: Miss Maria Melville ist letzte Woche wieder in ihre Klasse zurückgekehrt, nachdem sie viele Wochen auf der Krankenstation verbracht hatte. Sie hatte sich bei einem Ausritt nahe des Blackdown Ridge einen Knöchel gebrochen.
Marias Name! Ich war wie elektrisiert. Irgendwie wurde sie dadurch greifbarer. Nachdem ich die kurze Notiz ein zweites Mal gelesen hatte, kam die Erinnerung. Blackdown Ridge war der Ort, an dem die Menhire standen, hoch oben über den Moors, wie gigantische Finger, die in den Himmel zeigten. Und nicht nur das. Auch Helen war dorthin verschleppt worden, als sie versucht hatte, durch die verschlossene Tür in Agnes’ Studierzimmer zu gelangen. Gab es da eine Verbindung? Ich war nur einmal an diesem gespenstischen Steinkreis gewesen und hatte mich sehr gefürchtet. Es war nicht gerade das Standardziel für einen kleinen Ausritt oder einen Ausflug, denn der Weg dorthin war weit. Warum war Maria dort gewesen? Wen hatte sie dort getroffen, und wie war es zu dem Unfall gekommen?
Plötzlich überkam mich das dringende Bedürfnis, an diesen Ort zurückzukehren. Zeit dafür war noch genug, aber selbst sonntags brauchten wir die offizielle Erlaubnis, uns so weit von der Schule zu entfernen. Irgendetwas sagte mir, dass Miss Scratton mir diese Erlaubnis verweigern und stattdessen dazu raten würde, auf dem Schulgelände zu bleiben. Ich war hin- und hergerissen. Einerseits wollte ich unbedingt dorthin, andererseits wollte ich auch Miss Scrattons Ratschlag beherzigen. Obwohl sie uns empfohlen hatte, möglichst nicht mit ihr in Kontakt zu treten, entschied ich mich, sie aufzusuchen. Wenn sie mir die Erlaubnis gab, zu den Menhiren zu reiten, konnte nichts schiefgehen, da war ich sicher. Urplötzlich durchfuhr mich ein tiefer Schmerz. Mit Wehmut erinnerte ich mich an die Tage mit Evie und Helen in Uppercliffe Farm und Fairfax Hall, wo Sebastian seine Kindheit verbracht hatte. Ich wünschte mir so sehr, sie könnten mich begleiten.
Rasch ging ich zum Büro der Direktorin und klopfte an die Tür. Keine Reaktion. Gerade als ich mich enttäuscht zum Gehen wandte, sah ich Miss Hetherington, die Kunstlehrerin, den Korridor herunterkommen. Sie blieb stehen und lächelte mich an: »Willst du zu Miss Scratton?
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