Gillian Shields - Die Schwestern der Dunkelheit - 02
hell ist, dass wir nicht hinsehen können. Und als das Licht vergeht, ist er verschwunden. Die Erde vor dem Gedenkstein ist frisch und weich, wie ein gerade erst ausgehobenes Grab. Nur der Talisman ist noch da, ein leuchtender Edelstein auf dem Boden. Ich strecke die Hand nach ihm aus. Er ist alles, was mir geblieben ist und mir sagt, dass all dies wirklich geschehen ist. Unsere Geschichte.
Und jetzt ist sie vorbei.
Wenn die Dämonen aus dem Reich der Unbesiegten jemals wiederkommen sollten, um Sebastian Fairfax noch einmal zu suchen, so werden sie ihn nicht finden. Er befindet sich jetzt weit jenseits ihrer Reichweite. Er hat mein Geschenk angenommen und die Schwelle des Todes zu einem neuen Anfang überschritten.
Ich stehe auf und blicke über die Hügel. Die Sonne geht unter, und mir bricht das Herz, aber Sebastian ruht in Frieden.
Neunundvierzig
G anz allmählich erwachte ich wieder zum Leben. Auch die Schule um mich herum erholte sich wieder, gewöhnte sich langsam an die schockierende Nachricht, dass Mrs. Hartles Leiche draußen in den Moors gefunden worden war. Wir fanden zu einer Art Routine zurück, und der einzige Unterschied bestand darin, dass Miss Raglan nicht mehr da war. Den Schülerinnen wurde gesagt, dass sie plötzlich aus familiären Gründen hatte abreisen müssen. Niemand vermisste sie wirklich. Miss Dalrymple und die anderen hielten den Mund, entweder, weil sie sich schämten, oder weil sie verwirrt waren.
Die Tage verstrichen, und die Abteischule Wyldcliffe für Junge Damen machte auf die einzige Weise weiter, die sie kannte – mit Regeln und Ordnung und ruhiger, englischer Selbstdisziplin. Ausnahmsweise war ich froh über die starre Routine, die es der Schule so lange ermöglicht hatte, in einer sich verändernden Welt zu überleben. Es half mir, mit einer Art von Normalität die Tage zu überstehen. Die Besuche und Recherchen der Polizei und der Presse waren allerdings nur schwer zu ignorieren, da geplant wurde, Mrs. Hartles Tod gerichtlich untersuchen zu lassen. Die Beerdigung würde später stattfinden, wenn alle Untersuchungen abgeschlossen waren.
Es gelang uns, an Zeitungen zu kommen und alles zu lesen, was es über diesen Fall zu lesen gab. Die Behörden vermuteten, dass die Oberste Mistress irgendeine Art von Zusammenbruch gehabt hatte. Sie musste Wochen in den Höhlen der Moors überlebt haben, spekulierten sie, und hatte dann einen tödlichen Herzanfall erlitten, als sie im Sturm umhergeirrt war.
Manchmal ist die Realität für die Leute nur schwer zu akzeptieren. Diese Geschichte passte genauso gut wie jede andere. Sie eignete sich für die Schlagzeilen, bis es eine neue Sensation gab. Sie bot Celeste und India und den anderen etwas, worüber sie klatschen und tratschen konnten, bis es in Vergessenheit geraten würde.
In diesen ruhigen, dahintreibenden Tagen hingen Helen, Sarah und ich eng zusammen, verbunden in Trauer und Liebe. Was immer geschehen war, was immer wir verloren hatten, wir hatten einander, und nichts in der Welt konnte dieses Band zerreißen. Mit jedem verstreichenden Tag wurde das Wetter wärmer und strahlender, und die Hügel hallten wider vom Geschrei neugeborener Lämmer, die mit lautem Blöken die herrliche und geheimnisvolle Welt begrüßten.
Am Wochenende darauf kam Harriets Mutter, um sie nach Hause zu holen. Ich verabschiedete mich in der schwarzweiß gefliesten Halle von ihr, während sie auf das bestellte Taxi warteten. Ein Feuer knisterte im Kamin, und auf dem langen, polierten Tisch leuchteten Rosen in einer Vase.
»Mom, das ist Evie, von der ich dir erzählt habe. Sie war hier meine Freundin.«
Harriet sah jetzt anders aus; sie wirkte noch immer
dünn und müde, aber der angespannte, hysterische Blick war verschwunden. Sie hatte nicht gewusst, dass sie von einem verdrehten Geist kontrolliert und als Schachfigur in einem kranken Spiel benutzt worden war. Sie erinnerte sich nicht an die schrecklichen Pfade, die Mrs. Hartle sie entlanggeschickt hatte. Sie wusste nur, dass sie auf das Internat gekommen war und sich nicht hatte eingewöhnen können, dass sie nervös und ängstlich und von Heimweh überwältigt gewesen war. Harriets Augen glänzten, als sie mir ihre Mutter vorstellte. Mrs. Templeton ähnelte Harriet sehr; sie war farblos und dünn und darauf aus zu gefallen.
»Vielen Dank, dass du so nett zu Harriet warst«, sagte sie entschuldigend. »Ich hatte keine Ahnung, dass sie so großes Heimweh haben und unglücklich sein würde, dass
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