Gillian Shields - Die Schwestern der Dunkelheit - 02
sagte er. »Ich habe das nicht so gemeint. Es war nicht richtig. Ich möchte nur einfach meine Familie beschützen. Jetzt, wo mein Vater tot ist, muss ich der Mann sein.«
»Das verstehe ich«, sagte Sarah.
Cal lächelte sie an, und der gehetzte Ausdruck in
seinem Gesicht löste sich auf. »Du verstehst eine ganze Menge. Komm und besuche Rosie wieder, wenn du kannst. Du bist bei uns willkommen.« Dann sah er mich geradewegs an. »Hattest du nicht gesagt, dass du etwas zu tun hättest? Warte nicht länger. Die Zeit ist nicht auf deiner Seite.«
Er galoppierte davon, und wir brauchten keine weitere Aufforderung. Wir ritten, so schnell wir konnten, nur vom Gesang der Vögel begleitet, die den Morgen begrüßten. Es wurde heller, und wir mussten uns beeilen. Schon bald kamen die Ruinen von Uppercliffe in Sicht. Wir stiegen von unseren Ponys und liefen zur Tür.
»Irgendetwas fühlt sich anders an«, sagte Sarah und blieb im Eingang des verlassenen Hauses stehen.
»Dann sollten wir es uns so schnell wie möglich holen und zu Helen zurückkehren.« Ich drängte mich an ihr vorbei und ging in die Ecke des Raumes, in der wir den Talisman vergraben hatten. Kniend kratzte ich die Erde weg. Schon bald berührten meine Hände die verrostete Zinndose. Ich zog sie aus der Erde und öffnete sie. Ein Schauer aus staubigen Rosenblüten und ein Leinensäckchen fielen auf die Erde. Aber sonst war da nichts. Das Kästchen war leer. Der Talisman war weg.
Ich schämte mich über alle Maßen. Ich hatte schlechte Entscheidungen getroffen; ich hatte alle im Stich gelassen. Wieso hatte ich mir eingebildet, dass der Talisman in Uppercliffe in Sicherheit sein würde? Jeder konnte ihn genommen haben – Miss Raglan, Miss Scratton, oder eine der anderen Frauen, die um uns herum waren und uns auf Schritt und Tritt beobachteten. Ebenso gut konnten
Wanderer ihn mitgenommen haben, die neugierig in den Ruinen in den Moors herumstocherten. Kinder konnten ihn gefunden haben, die wie diebische Elstern oder Glückspilze einen Schatz ausgehoben hatten.
Ich hasste mich, weil ich so dumm gewesen war.
Helen und Sarah versuchten, mich zu beruhigen und einen Teil der Schuld auf sich zu nehmen; sie schmiedeten Pläne, wie wir den Anhänger zurückbekommen konnten, aber ich fühlte mich eigenartig fern von ihnen. Unsere Schwesternschaft konnte mir jetzt nicht helfen. Dies war mein Versagen, nicht ihres. Ich hatte das Vertrauen verraten, das Agnes in mich gesetzt hatte, als sie mir den Talisman übergeben hatte. Ich hatte Sebastians Hoffnungen verraten, und meine eigenen. Ohne den Talisman gab es keine Möglichkeit, Sebastian zu retten. Wir hatten keine Zeit mehr für weitere Versuche. Es war zu spät, und es war mein Fehler. Wenn dies alles vorbei war, würden Sarah und Helen trauern, aber die Qual musste ich allein ertragen – jetzt, jeden Tag, den Rest meines Lebens. Für immer.
Der Rest des Tages zog wie ein alter Film vorüber, langsam und unwirklich, nichts als verschwommene Geräusche und Bilder. Um mich herum redeten und bewegten sich die Menschen wie Marionetten. Die Stunden glitten an mir vorbei. Ich ging zur Bibliothek und bereitete ein paar Französisch-Übungen für den nächsten Tag vor. Ich sah Harriet, die müde und besorgt aussah, und half ihr bei ihren Mathe-Aufgaben. Oh, danke, Evie; was würde ich nur ohne dich tun? Die Marionetten zuckten und bewegten sich und sprachen, und ich hörte zu und antwortete, aber die ganze Zeit dachte ich: Ich habe
den Talisman verloren, ich habe den Talisman verloren, es ist alles mein Fehler …
»Wir könnten heute Nacht nach oben gehen«, sagte Sarah nach dem Essen leise zu mir. »Du weißt schon, in dem Buch nach neuen Ideen suchen. Es könnte helfen.«
Ich schüttelte den Kopf. Das Buch und seine Geheimnisse konnten mir nicht mehr helfen. Es war vorbei. Alles war zu Ende. Dies war das Ende der Geschichte.
Für mich gab es nur noch eines zu tun. Ich musste Sebastian treffen, musste ihm sagen, dass ich versagt hatte, und ihn um Vergebung bitten. Und ich musste es allein tun.
Neununddreißig
Aus den persönlichen Unterlagen
von Sebastian James Fairfax
Ich bin allein.
An der Schwelle zur Ewigkeit.
Dies ist mein Lohn. Meine Strafe.
Allein – allein in der immerwährenden Nacht. Bald werden die Unbesiegten mich holen.
Geht weg! Lasst mich in Ruhe! Bitte …
Nein.
Niemand kann mich hören.
Niemand kann mich bemitleiden.
Ich bin nichts. Schmerz, Feuer, Kummer. Sie bedeuten
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