Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
Vom Netzwerk:
gewesen war, weil er nun die Spannung hinter sich hatte. Von dem günstigen Ergebnis des Examens hatte er übrigens die Mutter nur beiläufig auf einer Postkarte verständigt. Die entscheidende Note der Gegner traf ein, und alle verwandelten sich wieder in Wirs. Der Ton der Note entsetzte ihn, aber er war sich klar darüber, daß auch die eigenen Proklamationen früher Schrecken verbreitet hatten. Was Nation hieß, konnte im Nu zu einem Vizefeldwebel werden und brüllen. Wer selbst brüllte, merkte es nur nicht; zu kindisch im Grund. Wenigstens brauchte er nicht mit anzuhören, wie sich die Tante zu Hause über die Note empörte. Er sah sie als Wir-Tante vom Onkel zum Krieg wandeln. In der Stadt war ein Aufruf angeschlagen, der das Vaterland mit Mann und Maus bis zum äußersten verteidigte. Um keinen Preis wollte Ginster die äußerste Maus sein und noch gar aus dem Loch kriechen. Zwei Soldaten rissen den Aufruf in Fetzen: »Die sollen uns nur …«, meinte der eine zum andern. Das Plakat hatte auf einer vaterländischen Mauer geklebt; ein öffentliches Papier, dessen Vernichtung Ginster entzückte. Als er kurz danach in seinem Zimmer einen Gestellungsbefehl vorfand, war er selbst vernichtet. Am nächsten Montag im Bezirkskommando antreten. Ein regelrechter Gestellungsbefehl – obwohl sein D. a. v. H. unversehrt war und gerade eben Unruhen aus den Hafenstädten gemeldet wurden. »Aber das ist ja unmöglich«, sagte er zum Bauführer, »unsere letzten Blutstropfen richten doch gegen die Tanks nichts aus.« Ganz gespenstisch der Wisch. Der Bauführer telefonierte mit dem Bezirkskommando. »Vielleicht müssen wir allehinaus.« Entschlossen wies Ginster Fräulein Papes Haare zurück. Wenn nur die Unruhen vor Montag auch hierher kämen – –
    Noch drei Tage Frist. Ginster stellte sich die Matrosen wild und struppig wie in Seefahrergeschichten vor, an der Nordsee war er noch nie gewesen. Das Generalkommando der benachbarten Provinzhauptstadt hatte den Straßengerüchten nach eine zuverlässige Maschinengewehrabteilung an den Bahnhof von Q. geschickt, die den Haufen gleich abfangen sollte. Die Matrosen waren in einem Sonderzug unterwegs; sie waren erschossen worden; sie blieben überhaupt aus. Niemand wußte Bescheid, denn ein Trupp Soldaten stieß die Menge aus der Nähe des Bahnhofs bis zum Fahrradgeschäft zurück. Offenbar durften die Maschinengewehre nicht behelligt werden; so empfindlich. Ginster fühlte sich zwar etwas gehoben, weil die Stadt bereits eine solche Bedeutung gewonnen hatte, daß sie vom Zugverkehr abgeschnitten werden mußte, fürchtete aber mehr noch, daß die Matrosen jetzt nicht durchzudringen vermöchten; auch des Gestellungsbefehls wegen, wie er sich eingestand. Abends Ansammlungen im Freien. Arbeiter, Urlauber und andere Leute, ein Publikum wie bei einem Jahrmarktsfest, nur fehlten die angesagten Artisten. Inzwischen ohne Matrosen anzufangen, trauten sich die Einwohner nicht zu. Sie waren an Ruhe gewöhnt und wunderten sich wahrscheinlich schon, daß sie in der Dunkelheit unbewacht auf einem Platz standen. »Glauben Sie, daß man schlafen gehen soll?« fragte Ginster ein Mädchen. Er wollte nur erfahren, ob vielleicht doch etwas geplant sei. Noch eine Viertelstunde ausgeharrt; noch weitere fünf Minuten. Nichts. Dann ging er zum Schein, um endlich das Ereignis hervorzulocken – eine List, die er daheim Trambahnen gegenüber häufig mit Erfolg anwandte. Wenn eine Trambahn sich über Gebühr verzögerte, entfernte er sich einfach ein paar Schritte von der Haltestelle, und sofort bog sie um die Ecke. Auf dem Nachhauseweg sah er mehrmals zurück, indessen, das Manöver mißlang. Frühmorgens – er begab sich ein wenig zeitiger als gewöhnlich ins Büro – war die winklige Fachwerkhauptstraße mit Menschen überfüllt. Als sei eine Panik ausgebrochen und die Massen suchten auf dem Korridor vergeblich den Ausgang. An die Möglichkeit von Aufläufen schien bei der Anlage der Stadt nicht gedacht worden zu sein. Soldatenreihen preßten sich durch, Ginster erriet sie aus ihren Mützen.
    »Was ist denn geschehen?« Ahnungslos an eine Hauswand gedrückt. »Dort der Matrose …«
    Einer wies ins Gewühl. Immer hatte Ginster bei öffentlichen Veranstaltungen Pech. Entweder kam er zu spät, oder er erhielt zu seiner Überraschung einen ausgezeichneten Platz, der aber, wie sich bald herausstellte, nur darum freigeblieben war, weil er nach der verkehrten Seite zu lag.
    »Der Matrose ist spät in der Nacht

Weitere Kostenlose Bücher