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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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sie immer wieder ein neues, denn fertig wurde sie nicht. Eine Kettennäherin; die Ausstattung mußte zwischen den Getränken eine Länge von vielen Kilometern erreichen. Ab und zu spähte Stadtsekretär Hermann durch die Tür oder sah von der Straße aus über den Vorhang, der die Spiegelscheibe bedeckte. Ginster schrak jedesmal zusammen, wenn der Stadtsekretär ihn erwischte. Um den Nachstellungen zu entgehen, hielt er sich häufiger im Wartesaal auf, der sich freilich kaum lohnte, da die großen Züge tatsächlich alle nur nachts durchfuhren. Die Stadt schien nicht beobachtet werden zu wollen. »Der Bruder meiner Frau lebt auf dem Land«, sagte Wenzel Ende Juli. Er war beim Bruder in Feriengewesen und fühlte sich noch frei wie ein Wasserturm; so ländlich, die Schweine und Hühner. Der Stadtbaurat riß den Turm nieder und leitete das Wasser in die Kanäle. Auf dem Weg zur Bahn lag ein Fahrradgeschäft, in dem die Speichen hartnäckig glänzten. Betrachtete Ginster sie einige Zeit, so liefen sie an, fuhren sausend herum und spritzten ihn fort. Sämtliche Lokale verscheuchten ihn, eine Riesensträhne wehte vor seinem Gesicht und kämmte die Stadt. Wie schön waren die bunten knisternden Perlenhänge, die im Süden als Türen dienten. Er zog sich in sein Neubauzimmer zurück, Fräulein Pape kochte ihm ihre Haare ins Essen hinein. Nicht ohne Verständnis; aus der Stachelbeercreme ragten kurze Borsten hervor, im Bohnengemüse wanden sich Fäden. Als Ginster bei Gelegenheit der gebleichten Person zaghaft ihre Verluste vorhielt, leugnete sie die Niederlage wie ein Tagesbericht. Die Haare auf ihrem Kopf nahmen auch wirklich nicht ab. In der Küche zerriß sie geräuschvoll Zeitungspapiere. »Ist ausgeliehen«, erklärte das Fräulein in der Bibliothek, das sich freute, wenn die Benutzer sich gegenseitig der Bücher beraubten. Auf dem Sofa ausgestreckt, bekämpfte Ginster die Sonntagnachmittage mit Romanen. Da er immer die Jalousie herunterließ, wurde die Natursonne in ihre Heide verbannt. Nur durch die Ladenritzen drang sie noch ein, und es war, als entrolle ein unsichtbarer Verkäufer gestreifte Luftstoffe im Zimmer. Ein Roman, der Sehnsucht hieß, spielte in M., Ginster kannte die Straßen. Mitunter fiel ihm das Buch aus der Hand. Während sein Körper sich zwischen den Sofalehnen verlor, tauchte einmal das Schlafzimmer daheim vor ihm auf. Der Onkel lag tot im offenen Sarg, ruhte aber gleichzeitig in seinem Bett und sah den Sarg vor sich stehen. Die Leute im Zimmer suchten ihm zu verheimlichen, für wen derSarg bestimmt sei. Langsam erhob sich der Onkel. Obwohl Ginster nach jedem Roman Ekel empfand, konnte er von dem Genuß doch nicht lassen. Er nahm sich vor, das mitgebrachte Buch zu verschmähen, holte es vom Tisch, schob es nach den ersten zehn Seiten weg, griff ohnmächtig wieder hin und jagte dann unter Zurücklassung alles Entbehrlichen überstürzt und pausenlos dem Ende entgegen. Die Wollust, mit der er sich hingab, demütigte ihn. Fräulein Pape stopfte die Zeitungspapiere in den Ofen, ach so, der Herbst zur Abwechslung wieder. An den Sonntagen war die Person stets außer Haus, und Ginster verkroch sich frierend im Sofa. Es gab wundervolle Wildwestromane und Abenteurergeschichten, die alle dasselbe erzählten, aber man konnte es hundertmal lesen. Besonders glücklich machte ihn der Triumph am Schluß. Wenn der Held von den Feinden überwältigt zu werden schien, sich unversehens befreite und zuletzt blitzend aus dem Dunkel hervortrat, hätte er laut jubeln mögen, eine solche Seligkeit bereitete ihm die Erfüllung. Sie war von der Süße einer Zuckerstange, wie sie die Kinder früher gelutscht hatten. Insgeheim liebte er als Leser die gefährlichen Handgemenge und schätzte den Frieden gar nicht so sehr. Er begriff sich selbst nicht, denn eigentlich war er doch feig.
    Weggefegt die Schmöker, die Apotheosen zerschmolzen. Waffenstillstandsangebot, Zeitungen, Telegramme – die Leute lebten zwischen Frieden und Tanks. Auch Ginster wurde verallgemeinert. Jetzt fährt der Friedenstank auf, schoß es ihm durch den Kopf. Fast bedauerte er die Front, weil sie nicht mehr im Mittelpunkt stand. Wie vor Schluß eines Theaterstücks: die Zuschauer rennen zur Garderobe, während die Hauptdarstellerin im besten Sterbenliebt. So unbeachtet wäre er noch weniger gern gefallen als sonst. Er erinnerte sich seiner Doktorprüfung. Damals hatte er gespannt die Stunde nach dem Examen erwartet, in der er aber besonders traurig

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