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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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einen Inhalt empfing. Der Gedanke an den Redakteur erhöhte für Ginster den Reiz der geheimen Mittäterschaft. Bisher war er noch nie zu einem anrüchigen Vorhaben herangezogen worden. Er trat jetzt ins Leben. Mit den Füßen tritt man ins Leben, fiel ihm ein.
    »Die Denkschrift wird eine Menge Zeit in Anspruch nehmen«, meinte er zögernd. Absichtlich sehr betont, als überlegte er sich etwas dabei.
    »Macht nichts … Und wenn es bis über den Krieg hinaus dauert.«
    Wahrscheinlich sah der Stadtbaurat nur so roh aus, um die Leute leichter übertölpeln zu können. Im Vergleich mit ihm erschien Herr Valentin trotz seines Anstands als plump. Er hatte sich damals den Ehrenfriedhof angeeignet, ohne die Beschlagnahme umständlich auszubauen oder den geringsten Schmuck an ihr anzubringen. Während der Stadtbaurat seine Ränke zusammensetzte und ineinanderschob, bis sie verwickelt wie die Wohnung Valentins wurden.
    Die Denkschrift zog sich hin, der Krieg dauerte fort, die Zeit rührte sich nicht vom Fleck. In seiner Abgeschiedenheit wurde Ginster häufig von der Mahnung des Onkels heimgesucht, daß er tüchtig arbeiten solle. Hay wußte viel mehr als er, aber die Pflanzen gingen ihn schließlich nichts an, sie wuchsen ja immer. Wichtiger waren die verschiedenen Weltanschauungen, mit denen Krieg geführt und im Frieden aufgebaut wurde. Übrigens verstand Ginster nicht recht, warum alle ihren Stolz darein setzten, den jetzigen Krieg einen Weltkrieg zu nennen. Er hegteden Verdacht, daß das Wort Welt ihnen Begeisterung einflößte; unter Weltstädten taten sie es ebenfalls nie. Da er sich vor dem Buchladen hütete, war er auf die Städtische Bibliothek angewiesen, einen getünchten Raum, der ein Fräulein mit Sommersprossen enthielt. Die Angabe, Stadtarchitekt zu sein, verschaffte Ginster nicht den mindesten Vorteil. Das Fräulein empfand die Benutzer der Bibliothek als eine überflüssige Dreingabe zu den Büchern, die es wie Untergebene behandelte. Wurde ein Band verlangt, der nicht gleich zu finden war, so nahm es die Zumutung übel. Man konnte sich auch mit den vorderen Regalen begnügen. Zu gewissen Tagesstunden durften die hellblonden Knaben und Mädchen entleihen, die das Fräulein besonders verdrossen, obwohl sie in seiner Gegenwart nicht einmal hüpften. Es teilte sie in Altersstufen ein, zu denen jeweils bestimmte Bücher gehörten. Zum Glück wurden die Kinder immer älter, sonst hätten sie stets dasselbe lesen müssen. Am liebsten blieb das Fräulein allein und sah mit seinen Sommersprossen zum Fenster hinaus. Ginster bemühte sich, durch verdoppelte Höflichkeit die Störung gutzumachen, die er unfreiwillig hervorrief. Bei schönem Wetter wagte er oft überhaupt nicht zu bestellen. Die Werke schien ein Zufall nach Q. geführt zu haben; höchst gemischt, das letzte Jahrzehnt fehlte fast ganz. In so kleinen Städten lebte die Jugend nicht gern. Des Onkels wegen las Ginster die vorhandenen philosophischen Systeme, die er gewöhnlich am Ende aufschlug, um zu erfahren, worauf sie hinausliefen. Meistens fing er sie dann gar nicht mehr an. Entweder forderten sie eine vollkommene Welt oder setzten die Vollkommenheit schon voraus. In der Zwischenzeit fielen die Soldaten. Lauter Systeme. Zu einem brauchte er über einen Monat. Als er zuletzt einen Mahnzettel erhielt, trug er es ungeöffnet wieder zurück. Er las ununterbrochen. Wenn er so fortfuhr, verwandelte er sich bald in die Bibliothek. An ihren Lücken war er nicht schuld. Das Fräulein mochte ihn später Stück für Stück ausleihen. Auch in Nationalökonomie vertiefte er sich, in Lebensbeschreibungen und Briefe. Zu einem zweiten Band ließ sich der erste nicht finden. Der Vollständigkeit halber blätterte er im Konversationslexikon nach, in dem er manchmal lange Stunden verweilte. Durch das Geländer des Alphabets gesichert, sprang er sorgenfrei von einem Ausdruck zum andern. Je heißer es wurde, desto mehr nahm die Stille zu. Er glaubte hinter Glas in einem Aquarium zu sitzen, das für Besucher geschlossen war. Oft starrte er auf einen Satz und erblickte nur Worte, das Gedächtnis klebte die Sachen nicht ein. Der Onkel würde enttäuscht sein, aber in der Stille war er zu kraftlos für die höheren Bücher. Draußen schlachteten sie wie bisher, die Amerikaner machten jetzt mit. Daß sie eigens herüberkamen, wunderte Ginster. Aus dem Plüsch im Café sprudelten Sommerfliegen, die auch auf dem Deckchen quirlten, an dem die Kellnerin nähte. Vermutlich begann

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