Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
Vom Netzwerk:
war es heraus. Schade, daß die Spannung ihr Ende nahm und einem ungeschriebenen Gesetz zufolge Otto als der Jüngere das entscheidende Wort nicht hatte aussprechen dürfen. Das Du zu empfangen, mußte noch schöner sein. Ginster dachte bekümmert an eine vielleicht schon nahe Zukunft, in der er genötigt sein werde, als erster durch Türen zu gehen; sie anderen zu öffnen und dann in kleinem Abstand nachzufolgen, war ihm gemäßer. Ein Glückskäferchen hätte jetzt herbeifliegen sollen. Ottos Wangen waren mit zweierlei Rot bedeckt: dem von der Schlacht und einem zarteren neuen, das sich länger erhielt.
    »Als Sie vorhin die Essiggürkchen …«, wollte er beginnen.
    »Als du …«
    »Als vorhin die Essiggürkchen so pedantisch den Schinken verzierten, fiel mir eine Geschichte aus meiner Kindheit ein. Vor dem Einschlafen pflegte sich im Bett regelmäßig das Folgende mit mir zu ereignen: ich legte zuerst den Kopf für eine gewisse Zeit auf die eine Seite, und zwar auf die Seite, auf der ich gewöhnlich schlief. Dann wandte ich mich um und kehrte mich der anderen Seite zu; wobei ich darauf achtete, daß ich in der mir unbequemeren Lage ungefähr ebenso lang wie in der früheren verharrte. Erst nach Erledigung dieses täglichen Bettpensums schien mir zu schlafen erlaubt. Wenn meine Mutter, die mich abends fast immer besuchte, nach dem Grund des ihr unerklärlichen Verhaltens fragte, antwortete ich lakonisch: ›Von wegen schief‹. Sie hat mir die Begebenheit oft erzählt, und noch heute neckt sie mich manchmal mit dem Wort. Ich glaube, daß es zu mir paßt. Meinst du nicht auch?«
    Ginster nickte. Diese Kinderzeit mit Mutter und Bett, über der er seine eigene Jugend vergaß, konnte ihm niemals gehören.
    »War der Brief, den du angefangen hattest, an deine Mutter gerichtet?« fragte er Otto.
    Eine dritte Röte löste die beiden vergangenen ab. Also, der Brief ging an ein Mädchen, und Photographien lagen bereit. Immer waren die Mädchen photographiert. Um Frist zu gewinnen, betrachtete Ginster die Bildchen, auf denen nur Otto etwas erkannte. Seine Kurzsichtigkeit schien geschwunden zu sein; was das Ungeschick betraf, so hatte Ginster wiederholt die Erfahrung gemacht, daß Menschen, die offenkundig der Gewandtheit ermangelten, ihn gerade in den Dingen übertrafen, mit denen er selbst nicht fertig wurde. Durch einen Bericht über Mimi, der die Tatsachen leicht verschob, suchte er das Gleichgewicht wieder herzustellen. Mimi wäre überflüssig gewesen; denn Otto nahm sein Mädchen insofern zurück, als er erklärte, daß es, vorläufig wenigstens, nur ein ganz entferntes Mädchen sei. Unterwegs – er begleitete Ginster, der ihn zurückbegleitete, dreimal, viermal, ein Pendelverkehr – unterwegs stießen sie auf Tanzmusik, Radfahrer, Pärchen, Vereine. »Daß die Menschen sich immer beschäftigen müssen«, sagte Ginster. In der Gesellschaft Ottos blickte er auf menschliche Beschäftigungen herab. »Ich weiß nicht«, erwiderte Otto, »es zieht mich schonoft unter die Menschen. In einem der nächsten Semester möchte ich nach Berlin.« Ginster sah trüb in die Zukunft. Unaufhörlich stachen die Mücken.

III
    Am zehnten Mobilmachungstag unternahm Ginster die Heimreise nach F. Die Bücherkiste war abgeschickt. Im Bahnhof standen Züge, von denen niemand wußte, wann und wohin sie fuhren. Ginster machte sich durch Fragen verdächtig; die Beamten glaubten, er wolle die Truppenbewegungen erkunden, weil er sie um Angaben über Zeit und Richtungen bat. Es schien ihm wahrscheinlich, daß sie Auskünfte auch in der Absicht verweigerten, ihn länger im Ungewissen zu halten. Der Druck, den eine solche Verschwiegenheit ausübte, kam ihrer eigenen Bedeutung zugute. Mit der Bemerkung, daß andere Leute ebenfalls auf ihre Beförderung warteten, wurde er in ein volles Personenwagenabteil gedrängt. Wenn es der Bücherkiste so erging, erreichte sie nie ihr Bestimmungsziel. Eine Erklärung für das Verschwinden der D-Zugwagen zu erbitten, durfte Ginster nicht wagen; vielleicht sollten sie bis zum Kriegsende geschont werden oder dienten höheren Vorgesetzten. Bei seinen Reisen zog er eigentlich sonst nur D-Züge in Betracht. Die Gegenden wirkten im Speisewagen wie Kaffeehausmusik, die das Gespräch belebt, ohne Aufmerksamkeit zu erzwingen. Durchmaß er ein größeres Gebiet, so nahm er sich gewöhnlich ein neues Leben vor. Statt in den mitgeführten Büchern zu lesen, genoß er lieber über das Buch hinweg den nach Minuten bezifferten

Weitere Kostenlose Bücher