Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
Vom Netzwerk:
Türe zu setzen, wie es ihm bei seinen Kundenbesuchen häufig geschah. Wenn er nach dem Aufenthalt in Häusern, die er niemals betrat, wieder unter den Havelock schlüpfte, hätte Ginster zu ihm schlüpfen mögen und ihn streicheln, weil er so trüb an den Villen vorbeistrich. Nach dem Tod des Vaters wardie Mutter mit den geringen Ersparnissen zu Onkel und Tante gezogen, wo auch Ginster sein Zimmer hatte. Sie zeigte sich ungeschickt im Umgang mit Menschen, der Havelock war zu schwer gewesen. Grundlos erklärte sie mitunter, gerne sterben zu wollen; auch wenn sie vergnügt war und lachte. Ihr Lachen dauerte lang, wenn es einmal kam, setzte immer wieder ein und trieb eine fremde Röte in ihre Wangen. Das Rot konnte ebensogut den Beginn einer schrecklichen Stummheit bezeichnen, die tagelang währte, es glühte in Fällen der Ungerechtigkeit auf, es war eine sichtbare Sprache, die alles ausdrückte, wozu die Worte nicht reichten. Abends im Bett dachte Ginster manchmal, daß das Rot eines Tages vergehen werde, schon bleichte das Haar. Er konnte nicht einschlafen, weil er die Mutter in das Alter hineinwachsen sah, unmerklich veränderte sich ihre Gestalt, eine leichte Krümmung des Rückens blieb, ein Zahn fiel aus, ein Lieblingsgericht schmeckte nicht mehr – nichts von Bedeutung eigentlich, aber es gab kein Zurück. Feucht und starr beobachtete er in der Nacht, wie die Mutter zerrann, sie wurde abgetragen wie ein Bauwerk, ohne daß Hände sich zeigten. Dann war nur er noch vorhanden, für drei Jahrzehnte vielleicht, ein abgetrenntes Teilchen, was sind die paar Jahre, was sollte er tun. In der Heimat, in der Heimat, da gibt’s ein Wiedersehn. Die Einfahrt war versperrt, lauter Züge, ein Durcheinander, Militär. Gloria, Viktoria, sie sangen, kein Fleckchen ohne die Vögel. Eine halbe Stunde, eine volle Stunde, unmittelbar vor dem Ziel, die Mittagshitze, Ginster sah in die Hallen. Niemand war an der Bahn. Wie konnten sie wissen –
    »Der Onkel ist im Studierzimmer«, sagte die Tante. Ginster trat ein. »Ja, du kommst in einer ernsten Zeit«, begrüßte ihn der Onkel, »warte einen Augenblick, ich muß gerade noch etwas kleben.« Er saß am Schreibtisch; Ginster kannte den Schreibtisch. Seine Schublade nahm es mit jeder Schatzkammer auf; sie war so unermeßlich tief, daß Ginster noch niemals ihr Ende erreicht hatte. Freilich waren seine Arme nicht allzu lang, und er hatte stets nur heimlich unter den Sachen gekramt. Briefpapiere verschiedenster Größe lagen neben ihren Kuverten, und wie durch ein Wunder blieb die Anzahl der zusammengehörigen Umschläge und Bogen immer unverändert erhalten. Zu Füßen eines schimmernden Hochplateaus hatte sich die Federwaage niedergelassen; das Plateau bestand aus sauber geschnittenem Konzeptpapier, dessen Schichten sich wie Glimmerplatten abheben ließen. Sichtbar am Eingang war das Markenkästchen aufgestellt, eine Vorhut, mit Abteilungen für die gebräuchlichen Sorten. Der Onkel erlaubte nicht, daß man die Marken ohne Bezahlung dem Kästchen entnahm, gab sie aber auch ungern heraus, wenn der Betrag entrichtet worden war. Die Marken gehörten in ihre Behälter und hatten nichts auf den Briefen zu suchen. Als Ginster einmal einer Dreipfennigmarke bedurfte, mußte er nach einer kurzen Verhandlung die drei Pfennige in dem Gefach hinterlegen, dem das Porto entstammte. Der Onkel fragte ihn sodann, ob er auch Geld gebrauche, und schenkte ihm einen Taler. In enger Nachbarschaft mit dem schwierigen Kasten hielt sich eine Visitenschachtel auf, in der sich eine Kette, ein Kompaß und Metallteile befanden. Durch die Hohlräume streiften Papiermesser, und aus dem Dunkel des unerforschten Hinterlandes leuchteten Siegellackstangen wie Reptilien hervor. Auf der Schreibtischplatte, die dasunterirdische Leben bedeckte, häuften sich Aktenbündel und einzelne Blättchen mit Auszügen und Vermerken. Es war gefährlich, die Blättchen zu berühren oder auch nur anzusehen, da ihre Reihenfolge dann sofort nicht mehr stimmte; allein der Onkel hatte über die Zettel Gewalt. Die Akten stammten aus den Archiven, die sie seit Jahrhunderten für den Onkel bewahrten. Viele mittelalterliche Dekrete schienen an ihn gerichtet zu sein, mit solchem Anteil nahm er für oder gegen sie Partei. Während er über ihnen das Mittagessen versäumte, behandelte er andere, äußerlich genauso beschaffene Urkunden, als seien sie gar nicht vorhanden. Sie mußten auf einem Irrtum beruhen oder waren vielleicht für einen

Weitere Kostenlose Bücher