Ginster (German Edition)
Aufenthalt in fremden Stationen und das Vorbeigleiten an Orten, die es in ihrem ganzen Dasein nur bis zu Bummelzügen brachten. Hinter ihnen lagen andereÖrtchen, die auf Nebenbahnen angewiesen waren. Jede Ankunft bereitete ihm eine Enttäuschung. Die Heimfahrt in dem Personenwagenabteil glich schon darum nicht einer richtigen Reise, weil sie sich ohne Fahrplan vollzog und durch menschliche Eingriffe willkürlich unterbrochen wurde. Es war ein Zufall, wenn der Zug sich bewegte. In der Regel lagerte er zwischen Getreidefeldern, und nach zwei Stunden sah man noch die Türme von M. Daß Ginster sich der Fragen enthielt, verstand sich bei seinen Erfahrungen von selbst. Aber auch die Leute im Coupé, die, ohne Anstoß zu erregen, hätten fragen können, standen, merkwürdig genug, von Versuchen ab, sich über ihr Schicksal zu unterrichten. Ein Kaufmann, der nach Eile aussah, erläuterte die Vorteile, die ein langsames Tempo unter Umständen habe. Die übrigen Mitreisenden stimmten ihm zu. Das ganze Abteil hatte sich zu einem Geheimbund zusammengeschlossen, der mit dem Verlauf der Mobilmachung zufrieden war und, wie auf gemeinsame Verabredung, sich über gewisse schwebende Fragen zu äußern vermied. Da der Kaiser keine Parteien mehr kannte, verurteilte er nur die fremden Nationen. Eine Einigkeit, die der Kriege bedurfte, verfehlte nach Ginsters Dafürhalten ihren Zweck. Die Gespräche bewegten sich so langsam wie der Zug, der mit ihnen ein Stück fortrutschte, innehielt und wieder rückwärts fuhr. Man war in ein Gefäß eingesperrt und stieß jeden Augenblick wider die Wände. In den Bahnhöfen hielten Truppentransportzüge mit Tischen davor, auf denen Tassen und Kannen standen. In den grauen Uniformen steckten junge rote Gesichter, die wie der Laubschmuck leuchteten, der die Kanonen auf den Güterwagen umwand und über die Pferdeköpfe herabhing, deren Reihe sich weit über die Halle hinaus dehnte. Hinter ihnen tauchten wiederKanonen auf, breitspurige Tiere ohne Kopf. Die Soldaten waren vergnügt, sie hatten gegessen und schrieben nach Hause. Das Wichtigste ist die Stimmung, sagte der Kaufmann. Die Wagen drüben begannen zu rollen, Gesichter, Pferdeköpfe, Kanonen glitten vorbei. Später lagen sie wieder auf freier Strecke. In der Dunkelheit, die hereingebrochen war, nannte der Kaufmann das Erntewetter günstig und schnarchte danach. Ginster entsann sich, am frühen Vormittag von M. abgereist zu sein. Tief in der Nacht trafen sie in W. ein, einer größeren Universitätsstadt, die früher vier Schnellzugstunden von M. entfernt gewesen war. Der Zug ging nicht weiter. Vielleicht fand sich morgen früh ein anderer Zug.
W. besaß ein berühmtes Barockschloß, das Ginster nicht kannte. Um drei Uhr nachts öffnete sich ihm eine Platzfläche, die er nicht betreten mochte, aus Furcht, ertrinken zu müssen. Er lehnte an einer Hauswand, kein Mensch in der Nähe, nur drüben am jenseitigen Ufer das stumme Massiv. Zu seinen Seiten war der Park zu spüren, Bäume und Blumenbosketts, die ungestört über den Platz hin rochen. Daß es Blumen gab, hatte Ginster vergessen. Vermutlich war der Park nach italienischer Art angelegt, mit Freitreppen und Kinderstatuen auf den Balustraden. Es wäre ein leichtes gewesen, in ihn einzudringen, aber Ginster wich keinen Schritt von der Wand. Allmählich erstand gegenüber ein Gelände aus Stein, in dem die Wege nach strengen Gesetzen verliefen. Fensterreihen, Balkone und Säulen: er beobachtete, wie sie dem Dunkel entstiegen, wollte sich nähern und blieb an der Wand. Der Duft verlor sich in der Vordämmerung, aber die Erscheinung war festgefügt und dauerte an. Sie würde fortbestehen, mit oder ohne Zeugen, sie bedurfte der Zeugen nicht. In Stücke hätte sie Ginster reißen mögen, ihre Säulen zerschlagen und die Fensterfluchten auflösen, hinter denen Prachträume unberührt schliefen. Angst befiel ihn, nur den Platz nicht überschreiten, was wußte die schöne Fassade vom Krieg. Vielleicht gab es Kompositionen, die sich nicht verschlossen, frei geschleuderte Spiralen und Kritzelzeichen und verschobene Flächen, die ohne Ordnung sich regten – anders als jene entsetzliche Figur. Übernächtigt kehrte er um, von dem Schloß verfolgt, das sich durch die Gassenschlitze zwängte. Auch Bücher stellten ihm nach; er nahm sich vor, nicht mehr »Dichtung und Wahrheit« zu lesen, der glänzenden Jugend des Dichters wegen, die er haßte wie die Fassade.
Aus den Güterwagen brüllte das Vieh. Es fuhr
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