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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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stand, bemerkte sie höchstens, daß er sich vermutlich in der Zeit geirrt habe. Aus der Nähe zu hassen, fiel ihr zu schwer.
    Der Onkel wollte allein gelassen werden. Ginster blieb im Studierzimmer zurück, um ihn hervorzulocken. Es hatte eine unfehlbare Methode zur Beschwörung des Onkels gegeben; ob sie sich auch in Kriegen bewährte, war nicht gewiß.
    »Wo hältst du in deiner Arbeit?« fragte Ginster verloren.
    »Ende des sechzehnten Jahrhunderts«, erwiderte der Onkel, ärgerlich aus Pflichtgefühl und zugleich in Erwartung.
    »Soviel ich mich erinnere, habe ich dich um die Mitte dieses Jahrhunderts zu Ostern verlassen. Du bist erstaunlich rasch vorwärts gekommen. Aber du klebst gerade. Ich will dich nicht stören.«
    »Nein, bleibe bitte, du störst mich nicht im geringsten.« Der Onkel hatte den Pinsel hingelegt und sich umgedreht. »Die letzten Jahrhunderte waren sehr schwierig. Ich habe interessante Funde gemacht, manche Kollegen werden sich wundern. Weißt du, die übliche Geschichtsschreibung hat jene Epoche durchaus verfälscht. Sie hat, aus Unkenntnis der Quellen und vor allem aus dynastischen und kirchlichen Interessen, die Kriegstaten der Fürsten verklärt« – der Onkel nannte Namen und Zahlen, die Ginster niemals behielt – »aber in Wahrheit handelte es sich um fürstliche Geldverlegenheiten, denen durch die vielgerühmten Taten abgeholfen werden sollte. Damit die Großen im Glanz leben konnten, wurden die Kleinen ausgepreßt und mit Kriegen überzogen. In den offiziellen Geschichtswerken ist davon wenig die Rede.«
    »Du wirst mit dieser Erkenntnis gewiß Aufsehen erregen«, bemerkte Ginster. Der Onkel strahlte und bemühtesich, gleichgültig zu erscheinen. Er bot Ginster eine Zigarre an, klopfte ihm auf die Schulter und versicherte ihm, daß er sich über seine Rückkunft freue.
    Dann holte er eine Broschüre hervor, ein grünes Heftchen, in dem Buchzeichen steckten.
    »Nicht so, als ob mir irgend etwas daran läge«, sagte er in vertraulichem Ton, »aber Möller, der berühmte Möller, einer unserer bedeutendsten Historiker …«
    »Möller, ich kenne ihn«, unterbrach Ginster, der ihn nicht kannte.
    »Möller, wie gesagt, hat mich in seiner Abhandlung an verschiedenen Stellen anerkennend zitiert.«
    Ginster ließ sich die Stellen zeigen und bewunderte sie; nicht zu sehr, um durch Kennerschaft das Lob zu erhöhen.
    »Du siehst, man wird noch an den alten Onkel denken, auch wenn ich nicht mehr bin. – Die Abhandlung übrigens taugt nicht viel.« Er schlug Ginster vor, an einem der nächsten Abende mit ihm auswärts eine Flasche Wein zu trinken. Ginster selbst trank nicht gern Wein, aber er wußte, daß er dem Onkel, der nicht viel trinken sollte, als Vorwand angenehm war. Der Onkel hatte sich wieder den Zetteln zugewandt, und ohne ihn noch zu beachten, klebte er weiter.
    An einem Mittwoch war Ginster eingetroffen; erst am Samstag konnte er Otto sprechen. Otto, der bisher in der Kaserne geschlafen hatte, durfte gerade in diesen Tagen nach Hause übersiedeln. Klopfenden Herzens erwartete Ginster die Begegnung. Er schämte sich vor Ottos Uniform, die ihn selbst in den Anklagezustand versetzte. Die Uniform würde den freien Durchgang von Gesprächen verhindern. Sie hatten sich, einem früheren Brauch zufolge, am Nachmittag unter der Normaluhr verabredet. Fast wäre er an Otto vorbeigegangen; Kappe und Brille, sonst nichts.
    »Mir geht es ganz gut« – Otto hob auf merkwürdige Weise den einen Arm – »die ununterbrochene körperliche Tätigkeit« – Ottos Kopf machte einen plötzlichen Ruck nach rechts – »anständige Vorgesetzte« – wieder der eine Arm – »wenn ich aus dem Krieg zurück bin« – der ganze Körper Ottos erstarrte – »nicht mehr so viel über den Büchern« – scharfe Wendung nach links.
    Sie haben ihn ganz ins Rechteck gezwungen, dachte Ginster, ein Automat. Bei jeder zweiten Uniform ging der Arm in die Höhe. Er wurde nicht von Otto geschwungen, sondern flog selbsttätig auf. Otto hätte die Uniformen gar nicht erkannt. Der Arm mußte ihm eingesetzt worden sein, mit Rädchen im Körper. Das System wurde von den Uniformen aus der Ferne bewegt. Es konnte nicht ausgeschaltet werden und funktionierte ohne Otto vermutlich viel besser. Die Drehung des Körpers wäre auch in seiner Abwesenheit zustande gekommen. Manchmal geriet er in das Gestänge, das ihn in Fetzen zu reißen drohte; auf Philologie war es nicht eingerichtet. Blieben die Uniformen aus, so kehrte der

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