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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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unbekannten Forscher bestimmt. Das Werk des Onkels, um dessentwillen die verwendbaren Akten einst abgefaßt worden waren, wurde mit Hilfe eines Leimtopfes geschrieben. Jede Seite setzte sich aus mehreren Teilen zusammen; sei es, daß ein fehlerhafter Satz sich eingeschlichen hatte, sei es, daß Ergänzungen sich als notwendig erwiesen. Einige Bogen erreichten eine ungewöhnliche Länge, wie Fahnen, aus lauter Lappen geflickt. Der Onkel hatte vom zehnten Jahrhundert an zu kleben begonnen und wollte bis ins neunzehnte dringen. Da er im dreizehnten vor kurzem zwei Jahre liegen geblieben war, ließ sich nicht voraussagen, ob er je an sein Ziel gelangen werde. Die vielen Schulhefte, die er immer zu korrigieren hatte, legten sich wie Barrieren in kleinen Abständen über den Weg.
    »Wir sind in einer schlimmen Lage«, sagte der Onkel, »schlimmer als im Siebenjährigen Krieg. Wenn ich jetzt so jung wäre wie du, ginge ich mit. Aber ich bin ein alter Mann.«
    »Du hast doch deine Arbeit«, versuchte Ginster ihn abzulenken.
    Es half nichts, der Onkel beharrte auf dem Krieg.
    »Heute kommt es auf andere Dinge an als auf mein Werk«, erklärte er fest. Er stand vom Schreibtisch auf und kehrte der Arbeit den Rücken.
    »Der Krieg ist sehr laut«, gab Ginster zu, »die Soldaten, man kann ums Leben kommen – aber ich halte ihn nicht für so wichtig. Warum beschäftigen sich jetzt alle Leute mit Patriotismus. Seit rechts im Osten ein Stück Land vom Gegner besetzt worden ist, jammern sie, als gehöre es ihnen privat. Früher haben sie sich um das Stück Land gar nicht gekümmert. Ich kann doch keine Gefühle für etwas aufbringen, das ich nicht kenne.«
    Er hätte besser geschwiegen. Um des besetzten Stückchen Landes willen gab der Onkel sein ganzes Mittelalter preis und wurde zum Vaterland in Person. Ginster fragte ihn, ob er schon einmal dort gewesen sei. Der Onkel zürnte. Er war traurig über Ginster, dem die richtigen Gefühle fehlten. Er begriff nicht, daß dies sein Neffe sei. Er stellte fest, daß der einzelne in der Gesamtheit unterzugehen habe. Er erinnerte an die Befreiungskriege und verglich seine Nichtigkeit daheim mit den Heldentaten der Truppen im Feld. Die Nichtigkeit galt mehr noch Ginster, der in sich zusammenfiel.
    »Ich habe mich freiwillig gemeldet, in M.«, sagte er, um den Onkel zu beruhigen. Der Onkel billigte Ginsters Verhalten, ohne es außergewöhnlich zu finden. Es schien ihm selbstverständlich, daß jeder erreichbare Angehörige an der Front gegen Feinde kämpfte.
    »… aber sie haben mich nicht genommen«, beendete Ginster seinen Bericht.
    »Dafür kannst du nichts. Die Hauptsache ist, du hast deine Pflicht getan.« Mutter und Tante kamen herein, sie hatten noch kaum mit Ginster gesprochen. Die Muttererkundigte sich, ob er das Bücherkistchen richtig abgeschickt habe; alle seine Strümpfe seien wieder zerrissen.
    »Es macht dir doch eine gewisse Freude, sie zu stopfen«, sagte er. Die Löcher in den Strümpfen erschienen ihr so groß wie der Krieg.
    »Bist du nicht auch verzweifelt über das Unglück?« fragte die Tante. Sie meinte den Krieg. Alle öffentlichen Angelegenheiten, über die sie aus der Zeitung und aus Gesprächen erfuhr, wurden von ihr eingehend geprüft. Der Krieg also durfte nicht kommen, und die Diplomaten hatten Dummheiten gemacht. Ginster war ein wenig erleichtert, weil die Tante den Krieg nur als Unglück nahm.
    »Es ist leider auch ungewiß«, fuhr sie fort, »ob wir siegen werden. Die ganze Welt ist gegen uns; als trügen nicht die andern die Schuld. Der Onkel vertraut ja auf unsere militärische Führung, aber ich habe meine eigenen Gedanken …«
    »Wenn du nur nicht über Dinge reden wolltest, die du nicht verstehst«, warf der Onkel dazwischen. Stumm schrieb Ginster die Tante ab.
    Die Mutter saß da und glühte. »Sie ist verstört über die feindlichen Brandstiftungen und Plünderungen im Osten«, sagte die Tante. Vielleicht sind die eigenen Truppen nicht besser, wollte Ginster einfließen lassen, aber der Onkel war zu gepanzert.
    »Könnte ich nur einen Tag, wie ich wollte …«, begann die Mutter. Hätte sie gekonnt, die feindlichen Armeen wären auf ihre Veranlassung sofort dem Feuertod überliefert worden. Alles wegen des Landes im Osten. Dabei vermochte sie einem Fremden niemals ein böses Wort zu sagen. Kam ein Handwerker nicht zur verabredeten Stunde, so bedrohte sie ihn bis zu dem Augenblick, in dem er an der Haustüre schellte. Wenn er dann vor ihr imKorridor

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