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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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erst noch Tag und Nacht, dann wurde es aufgeschlitzt und gefressen. »Gloria, Viktoria« sangen die Soldaten. Sie sangen von der Heimat und von den Vöglein, die auch wieder sangen. Alles sang, weshalb schliefen sie nicht. Das Lied, das aus Fetzen bestand, war gleichzeitig mit dem Krieg aufgetaucht; überall zur selben Minute. Eigentlich war es ein rührendes Lied, und die Soldaten empfanden etwas dabei, wenn sie es sangen. Ginster begriff, daß er in einer Zeit lebte, in der Volkslieder entstanden, die später den Sammlungen einverleibt wurden. Er hatte solche Lieder in der Schule und in Konzertsälen gehört, ohne sich Gedanken über ihre Herkunft zu machen. Jetzt wußte er nicht mehr von ihnen als damals, sie brachen grundlos aus wie der Krieg. Gloria, Viktoria, die Sonne schien. Das Personenwagenabteil, in dem Ginster saß, war wie gestern, auch mit einem Kaufmann, der Zug hielt, die Kanonenrohre funkelten und immer die Felder. In den D-Zügen hatte Ginster nie auf das viele Getreide geachtet, aber wahrscheinlich hing es mit den Volksliedern zusammen. Wie aus Versehen kamen Gegenden, die er kannte,und die Leute sprachen von F. Jede große Stadt, der man sich in der Eisenbahn nähert, beherrscht schon lange vorher alle Gespräche. Sie dehnt sich ringsum unsichtbar aus, und oft schneiden sich Städte, die stundenweit voneinander entfernt sind. Noch mußten fünf Stationen zurückzulegen sein, als Ginster bereits eingetroffen war. Während auf dem Nebengleis draußen die Vöglein in einem fort so wunderschön sangen, breitete sich langsam ein Havelock über ihm aus, ein grauer etwas abgeschabter Havelock, der ihm die Aussicht versperrte. So oft er von M. nach Hause gefahren war, hatte ihn der Havelock geschreckt. Sein Vater war bei Regenwetter in dem Havelock und in Gummischuhen über die Straße geschlurft, ein wenig gebückt war er dahergekommen, über sich einen Schirm. Vor anderthalb Jahren noch, kurze Zeit vor seinem Tod, stapfte er so die Stufen hinauf, eine nach der anderen, man wußte es eine viertel Stunde früher, daß er erschien. Der Havelock hatte das ganze Elternhaus eingehüllt. Unter ihm lebte die Mutter, kaum daß sie die vertragene Hülle manchmal zu lupfen vermochte – ins Freie konnte sie nicht. Sie stellte die Gummischuhe zurecht, sie sorgte dafür, daß das Fleisch weich war, sie führte die Aufsicht über die Medizinen, Hunderte von Dosen und Fläschchen in einem eigenen Kasten. Der Vater schickte sie in die Sommerfrische, er sparte für sie und Ginster die Pfennige zusammen, und wenn das Fleisch einmal gut geriet, zart, doch ohne allzu viel Fett, erheiterte er sich sogar und erzählte die paar Witze, deren Pointe er immer versäumte. Aber dann zog wie eine Wetterwolke wieder der Havelock herauf, die Fläschchen krochen aus dem Kasten, und das Wohnzimmer verfinsterte sich. Die Gewitter fuhren über den imitierten Perserteppich und sammelten sich um Sofa und Tisch. Durch das geschlossene Fenster drang Wagenlärm in die Stube, die Häuserfronten gegenüber leuchteten unbeteiligt. »Ich wollte, du wärest wieder fort«, hatte Ginster als Kind zum Vater gesagt. Der Vater reiste in Stoffen, feiner englischer Ware, die er selbst nicht trug. Am Sonntagnachmittag ging er mit der Familie spazieren, immer derselbe Spaziergang, Ginster haßte die Straßen am Sonntag. Sie gingen durch das Westend, wo die Villen und die Herrschaftshäuser sich in ihre Vorgärten zurückziehen, damit der Asphalt sie nicht streift. Hier sind die Straßen am Sonntagnachmittag verlassen, und die Häuser verstecken ihre Türen. Nur Dienstmädchen auf den Trottoirs, frisch gescheuert, mit Burschen, und in Abständen kleine Gruppen, die der Weg aus ihren Stadtteilen nach anderen Gegenden führt. Die Herrschaften sitzen hinter den Vorhängen oder sind auf dem Land. Der Vater verweilte vor den Villen und schätzte sie ab. »Dieses Haus muß mindestens zehn Zimmer haben«, sagte er, »drei nach der Straße, die Küche im Souterrain; dann noch die vielen Nebenräume und der schöne Garten. Es wird kosten, nun, sagen wir, sechstausend Mark Miete überschlägig gerechnet, wahrscheinlich mehr. Seht nur die hohen Spiegelscheiben, die Zimmer sind heller als unsre. Nach hinten zu ist sicher eine große Veranda angebaut. Wenn wir die Villa hätten, könnte ich bei warmem Wetter im Lehnstuhl auf der Veranda liegen.« Er bewunderte vorgeklebte Zinnen und eignete sich in der Phantasie üppige Dielen an, um sich etwas später selbst vor die

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