Girl Parts – Auf Liebe programmiert
öffnete den Mund, um etwas bisher nicht genau Überlegtes zu sagen, aber sie lief eilig weg zum Podium, wo Mr Branch endlich die Schnüre entzerrt hatte. Einmal noch sah sie mit knallrotem Kopf zu Charlie zurück, dann verschwand sie nach draußen auf den Parkplatz.
Das Zuschlagen der Tür hallte in dem jetzt leeren Raum wider. Charlie war allein, er hielt die Büroklammer fest in der Hand. Er warf sie. Die Klammer flog unkontrolliert und prallte vom Podium ab. Wie zur Antwort gab es einen Knall, ein Stück Seil schnalzte hoch ins Traversengestänge, und mit einem schwirrenden Geräusch fiel das Einsfünfzig-mal-drei-Meter-Transparent, auf dem Nora Vogels Klassenfoto zu sehen war, herab und landete metallisch krachend auf dem Boden.
Um 13:45 Uhr kehrte Paul Lampwick von seinem Einzelgespräch bei Dr. Roger mit rot geränderten Augen zurück. Charlie schlurfte langsam zu dem Beratungszimmer und fuhr dabei mit seinen Fingern an den Spinden entlang.
»Charlie, kommen Sie rein.«
Dr. Roger stand auf, um ihm die Hand zu schütteln. Seine Handflächen waren weich und glatt. Er roch nach Aloe.
»Danke, dass Sie herübergekommen sind.« Er klang vergnügt, fast befreit. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich habe heute so viele Jugendliche gesehen, dass mir der Schädel brummt. Ich habe das Gefühl, ich sollte einfach einen kleinen Rekorder aufstellen, der pausenlos ›Ja, das ist völlig normal‹ wiederholt.« Er grinste.
Charlie entspannte sich ein wenig und setzte sich in seinen Lehnstuhl.
»Also, was gibt’s?«, fragte Dr. Roger.
»Nichts.«
»Nichts? Alles in Ordnung?«
»Alles in bester Ordnung.«
Dr. Roger runzelte die Stirn. »Gut! Ich freue mich, das zu hören.« Er blätterte in Charlies Akte. »Ihre Klassenkameraden haben ein paar freundliche Dinge über sie gesagt.«
Charlie blinzelte. »Ähm, ich bin Charlie Nuvola.«
»Wie bitte?«
»Ich glaube, Sie verwechseln etwas. Meinen Namen.« Charlie deutete auf die Akte. »Ich heiße Charlie Nuvola.«
Dr. Roger schaute nach unten, dann wieder zu Charlie. »Ist es so erstaunlich, dass Ihre Klassenkameraden nett von Ihnen gesprochen haben?«
Er zuckte die Achseln.
»Wären Sie weniger überrascht, wenn sie etwas Fieses über Sie erzählt hätten?« Dr. Roger wartete kurz. »Oder wenn sie überhaupt nichts sagen würden?«
Charlie verschränkte die Arme. Wieder dieses Gefühl, dass sich ein Deckel auf sein Gehirn legte.
»Das ist ganz in Ordnung, Charlie. Die unabhängigsten Köpfe sind oft auch die besonders Stillen. Die Sache ist nämlich die, dass wir Dinge für uns behalten, wenn wir nicht damit rechnen, dass sie irgendwer versteht.« Dr. Roger legte erneut eine kurze Pause ein. »Fühlen Sie sich gelegentlich so?«
»Tut das nicht jeder?«
»In meinen Notizen steht, dass Dr. Lightly Fixol verschrieben hat, ein Antidepressivum.«
»Sie hat es empfohlen. Nicht verschrieben.«
Dr. Roger klopfte mit dem Zeigefinger gegen seine Lippen. »Also, wenn Sie der Meinung sind, dass Sie es nicht brauchen – ich stimme zu.«
Charlie war erstaunt. »Ehrlich?«
»Ich glaube nicht daran, dass alle Probleme durch Medikamente lösbar sind, Charlie. Ich beobachte gerne menschliches Verhalten und Interaktionen.«
Charlie lehnte sich in seinem Sessel zurück und stieß einen langen Seufzer aus. »Gut.«
Dr. Roger blätterte eine Seite um. »Hier steht, dass Ihre Mutter vor einigen Jahren weggegangen ist.«
»Das stimmt.«
»Möchten Sie darüber reden?«
»Nicht wirklich.«
»Mutter weg. Nicht viele Freunde. Enge Beziehung zu Ihrem Vater?«
Charlies Blick sprang hinunter zum Teppich. »Ja.«
»Bis vor Kurzem?«
Charlie holte Luft. Er erwiderte den Blick des Arztes.
»Das sind momentan schwierige Jahre. In die Eltern-Kind-Beziehung geraten Spannungen, ganz besonders in einem Alleinerziehenden-Haushalt.«
Charlie schüttelte den Kopf. »Nein, das trifft auf uns nicht zu. Wir sind Freunde.«
Dr. Roger nickte langsam. »Gut. Gut.« Er nahm einen Schluck aus dem Wasserglas auf seinem Schreibtisch. »Und Freunde sind immer füreinander da. Passen aufeinander auf. Bestimmt passen Sie manchmal auch auf ihn auf.«
»Manchmal. Was ist dagegen einzuwenden?«
»Nichts. Ich bin sicher, das hat Sie sehr selbstständig gemacht, was von Vorteil ist. Bedeutet, dass Sie reif sind. Natürlich bedeutet es auch, dass Sie sich oft auf sich selbst verlassen müssen. Ihre eigenen Eltern sein müssen. Selbst entscheiden müssen, was gut oder schlecht ist,
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