Girl
musste beim Eintreffen in Stamford Bridge unbedingt pissen. Aber dazu war keine Zeit mehr, weil in dreißig Sekunden angepfiffen wurde und wir auf keinen Fall was verpassen wollten.
Die erste Dreiviertelstunde war die reinste Qual für mich. Von der Sekunde des Anpfiffs an bis zum Ende der ersten Halbzeit presste ich meine Beckenmuskulatur fest zusammen. Als Giggsy uns nach dreißig Minuten in Führung brachte, sprang ich von meinem Sitz hoch und riss die Faust in die Luft, wobei ich ein Auslaufen gerade noch verhindern konnte. Aber ich hielt eisern bis zum Ende der ersten Halbzeit durch und flitzte dann so schnell es eben ging zur Herrentoilette. Rennen war nicht drin, sonst wär’s gelaufen. Es war also eher eine Mischung aus Hinken und Hopsen.
Am Lokus angekommen, brauchte ich gerade einmal ein paar Minuten anstehen, bevor ein Platz frei wurde, obwohl es mir wie Stunden vorkam, aber dann stand ich endlich vor der langen Metallrinne dichtgedrängt zwischen den anderen Kerlen. Ich zog den Reißverschluss auf, schnappte nach meinem Schwanz … und erst da fiel mir ein, dass jemand anders ihn sich bereits geschnappt hatte, unwiderruflich.
Ich weiß auch nicht, wie ich das hatte vergessen können. Ich vermute, das Spiel musste mich vorübergehend so gepackt haben, dass nichts anderes mehr zählte. Jedenfalls stehe ich da und krieg nur heiße Luft zu packen. Und durch den Schock verliere ich vollends die Kontrolle, und ich pinkle mir vor allen Leuten in die Hose, während ich verzweifelt versuche, an mich zu halten. Ich fühle, wie mir die Tränen über die Wangen laufen und sich mir der Hals zuschnürt, und in dem Moment sagt so ein fetter, kahlrasierter Scheisskerl mit Chelsea-Trikot: »Oi, du bist doch der Typ, dem sie den Pimmel abgeschnippelt haben. Ich kenn dich doch aus der ›Sun‹.«
Im Nu bin ich von Leuten umringt, und irgendwer sagt: »Ey, warte ma, der hat doch Titten und alles. Na, los doch, Süße, ausziehen für unsere Jungs.«
Inzwischen war eine der Scheisskabinen freigeworden. Ich stürzte rein, verschloss die Tür und versuchte, die durchnässte Slip Einlage aus der Hose zu ziehen, während der Gesang Hunderter hirnverbrannter, fettbauchiger Cockneys durch die Herrentoilette dröhnte: »Ausziehn, ausziehn, ausziehn.«
Ich hockte tränenüberströmt in meiner Kabine und machte mir vor Angst fast noch mal in die Hose. Und während ich da auf dem Pott saß, die durchnässte Hose um die Knöchel, wurde mir sonnenklar, dass ich anders als die Leute da draußen war, ganz egal, was ich auch tun würde und zu welchem Arzt ich gehen würde. Ich gehörte nicht mehr dazu.
Ich bin seit Jahren zum Fußball gegangen und habe mich nie irgendwie bedroht gefühlt. Ich bin mitten in der Nacht auf die Straße gegangen, und natürlich gab’s schon mal die eine oder andere Rauferei, und trotzdem hatte ich nie Angst verspürt.
Wie oft bin ich mit den Kumpels losgezogen, und wenn die Roten gewonnen und wir die ersten Pints intus haben, wird natürlich gesungen. Nicht weiter schlimm. Genau wie es nicht weiter schlimm ist, wenn eine Puppe vorbeikommt – vielleicht hat sie gerade ein enges Kleid an oder ein Paar pralle Kugeln –, und wir rufen ihr einen freundlichen Gruß hinterher. Ist doch bloß Spaß.
Aber wenn es einem selbst passiert, ist es überhaupt nicht mehr spaßig. Umgeben von all diesen Männern kam ich mir schwach, hilflos und ausgeliefert vor. Mein Körper war nicht mehr der gleiche wie früher. Mein Rammbock fehlte. Ich konnte nicht mehr zurückschlagen.
Kurze Zeit später ging die zweite Halbzeit los, also verschwanden alle zurück auf ihre Plätze. Ich hörte ihre Füße über den Boden schlurfen, diese stumpfen Dumpfbacken, aber danach war alles ruhig. Ich streckte meinen Kopf aus der Kabine und sah, dass die Luft rein war.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Vermutlich hätte ich zu den anderen zurückgehen sollen. Aber ich konnte sie nicht mehr sehen oder auch nur zurück auf die Tribüne gehen. Ich hatte das Gefühl, von allen angestarrt zu werden. Außerdem war ich dermaßen niedergeschlagen, dass ich mit niemandem sprechen wollte. Ich wollte bloß weg und allein sein.
Auf der Fulham Road draußen vor dem Stadion wurde es schon dunkel. Es hatte angefangen zu regnen, aber das konnte mir im Augenblick so egal sein wie alles andere. Ich lief die Straße entlang, mehr oder weniger in Richtung Heimat, blickte in Schaufenster, ohne was zu sehen, bog in Seitenstraßen ab, kreuzte wieder und
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