GK0061 - Der Gnom mit den Krallenhänden
und nun gehe ich und rufe an.«
Der Bürgermeister wollte noch etwas sagen, winkte dann jedoch ab. Er wandte sich an Gilbert Ruminski, dessen sonst so sonnenbraunes Gesicht eine ungesunde Farbe bekommen hatte.
»Nun, was meinen Sie dazu. Haben Sie vielleicht eine Idee, wer das getan haben könnte? Und vor allen Dingen: Wer stiehlt schon einen Totenschädel?«
Ruminski schüttelte den Kopf. »Nein. Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand von unseren Mitbürgern zu so etwas fähig ist. Was den Schädel betrifft, da habe ich auch keine Ahnung.«
»Wer kann schon hinter die Stirn eines Menschen schauen«, sagte der Arzt und putzte umständlich seine dicke Hornbrille.
»Dann gehe ich jetzt auch«, meinte Ruminski, machte auf dem Absatz kehrt und lief in Richtung Ausgang.
Die Menschenmenge war inzwischen größer geworden. Fast das gesamte Dorf hatte sich versammelt.
Ruminski wurde mit Fragen bestürmt.
»Wie sieht der alte Perell aus?« quiekte eine sensationslüsterne Frauenstimme.
»Scheußlich«, erwiderte Gilbert Ruminski und bahnte sich einen Weg durch die Menschen.
Zum Glück wurde die Aufmerksamkeit der Menge auf den Bürgermeister gelenkt, der soeben aus der Tür trat.
Ruminski stahl sich unmerklich davon.
Mit raumgreifenden Schritten näherte er sich dem kleinen Platz, auf dem das Schulgebäude stand.
Der Hausmeister befand sich natürlich unter den Neugierigen, und so mußte Ruminski die Tür mit seinem eigenen Schlüssel aufschließen.
In dem Gebäude roch es muffig und feucht.
Gilbert Ruminski ging sofort in das kleine Lehrerzimmer, das auch gleichzeitig als Schulbibliothek diente.
Ruminski war da nämlich eine Idee gekommen.
Etwa zehn Minuten wühlte er zwischen den Büchern herum. Dann hatte er endlich gefunden, was er suchte.
Das Buch war schon uralt und besaß keinen Rücken mehr. Man mußte vorsichtig damit umgehen, damit die Blätter nicht auseinanderfielen.
Auf über vierhundert Seiten wurde die Geschichte der Provinz Calvados beschrieben. Unter anderem war auch ein Kapitel dem Ort Beaumont gewidmet.
Ruminski blätterte die Seiten durch und hatte endlich gefunden, wonach er suchte.
Die Chronik der schwarzen Mühle. Dieses Bauwerk stand nicht weit von dem Dorf entfernt und war eine Stätte des Grauens. Die Geschichte wußte von einem Müller zu berichten, der mit dem Teufel im Bunde gestanden hatte. Er hatte angeblich das Dorf verhext, bis er geschnappt worden war und man ihm mit einem Beil den Schädel gespalten hatte. Kurz vor seinem Tod sollte der Müller einen grausamen Fluch ausgestoßen haben. Aber das alles war schon zweihundert Jahre her und nur noch in dem Aberglauben der Menschen lebendig.
Aber trotzdem…
Irgend etwas zwang den Lehrer, diese Geschichte doch nicht einfach als Firlefanz abzutun. Ein Gefühl sagte ihm, daß hinter diesen Dingen mehr steckte, als man allgemein annehmen konnte.
Gilbert Ruminski klappte das Buch wieder zu und tat es an seinen Platz.
Dann zündete er sich eine Zigarette an. Anschließend blickte er auf die Uhr und stellte fest, daß in einer halben Stunde schon Schulbeginn war. Trotz der schrecklichen Ereignisse sollte der Unterricht nicht ausfallen.
Jemand klopfte an die Tür des Lehrerzimmers. Auf Ruminskis »Herein!« betrat der Hausmeister den Raum.
»Entschuldigen Sie, Monsieur Ruminski. Fällt der Unterricht vielleicht aus?«
»Nein.« Ruminski schüttelte den Kopf. »Ich gehe jetzt nach Hause, ziehe mich um und bin in einigen Minuten wieder da. Sie können die Kinder schon inzwischen hereinlassen.«
»Wie Sie meinen, Monsieur Ruminski.«
***
Dunkel und drohend lag die alte Mühle auf der Hügelkuppe.
Das Mühlrad mit den vier großen Flügeln stand still. Es war schon seit Jahren nicht mehr bewegt worden. Die dicken Holzspanten waren mit Algen und Moos überzogen und standen kurz vor dem endgültigen Verfall.
Über 400 Jahre alt war die Mühle. Seit der letzte Besitzer, der Magier Sourette, umgekommen war, hatte niemand mehr die Mühle übernommen.
Die Menschen in der Umgebung sprachen von einem Fluch, der über diesem Relikt aus der Vergangenheit lastete.
Doch seit wenigen Wochen gab es jemanden, der in der Mühle wohnte.
Cascabel – der Gnom!
Niemand wußte, woher er gekommen war. Kaum jemand hatte ihn gesehen – und wenn, dann wollte man nichts mit ihm zu tun haben.
Einen Kilometer hinter der Mühle begannen die Klippen, gegen die seit Urzeiten die wilde Brandung des Meeres schäumte. Die bleichen ausgewaschenen
Weitere Kostenlose Bücher