GK0077 - Der Blutgraf
wesentlich kleiner als der Scotland-Yard-Inspektor und mußte sich fast auf die Zehenspitzen stellen, um John ins Gesicht sehen zu können.
»Also, nun mal raus mit der Sprache. Was fanden Sie an der Leiche so interessant?«
»Gar nichts.«
Der Polizist zog drohend die Augenbrauen zusammen. »Wer sind Sie überhaupt? Am besten ist es, Sie begleiten mich auf das Revier! Dann können wir in Ruhe reden.«
»Aber das Schiff. Es läuft in fünfzehn Minuten aus. Ich habe gebucht.«
Der Polizist suchte wohl einen Sündenbock. »Dann muß der Kahn eben ohne Sie auslaufen. Tut mir leid.«
John merkte, daß es dem Mann ernst war. Deshalb machte er kurzen Prozeß. Er holte seinen Ausweis, den er immer bei sich trug, aus der Tasche. Der holländische Polizeibeamte prüfte ihn genau. Dann verzog sich sein Gesicht zu einem jovialen Lächeln.
»Das ist natürlich etwas anderes, Kollege. Entschuldigen Sie mein Verhalten von vorhin, aber Sie hätten bestimmt genau so gehandelt.«
»Natürlich«, erwiderte John und lächelte ebenfalls.
Der Beamte war beruhigt. Die beiden wechselten noch einige belanglose Worte und dann mußte sich John beeilen, um pünktlich aufs Schiff zu kommen.
Er entdeckte Sheila und Bill in der Menschentraube an der Reling. John klemmte sich noch zwischen die beiden.
»Mann«, sagte Bill. »Wir dachten schon, du hättest es dir anders überlegt und wolltest wieder nach London.«
Ehe John antworten konnte, meinte Sheila: »Oder hast du mal wieder einen Dämon entdeckt?«
John erwiderte nichts. Zum Glück legte das Schiff auch ab. Das Manöver war so interessant, daß Sheila ihre Frage vergaß.
Die schwere Maschine begann zu vibrieren, und die Reise ins Grauen konnte starten.
Nur ahnte niemand etwas davon…
***
Der Vampir stand in einer engen Kammer. Sie war vollgestopft mit frisch gewaschener Bettwäsche und Tischdecken. Der strenge Waschmittelgeruch widerte den Untoten an.
Graf Tomaso hatte sich, kurz bevor das Schiff ausgelaufen war, hier versteckt. Er wollte in der Nähe der Kabinen sein, um so schnell wie möglich sein erstes Opfer finden zu können.
Das Summen der schweren Diesel drang kaum an seine Ohren, obwohl die Kabinen mittschiffs und direkt über dem Maschinenraum lagen. Aber es war alles sehr gut isoliert.
Die Zeit verging. Auf dem Gang hörte der Untote aufgeregte Stimmen, dazwischen Frauenlachen. Ab und zu greinte ein Kind.
Der übliche Trubel kurz nach dem Auslaufen.
Kabinentüren knallten, wurden wieder aufgerissen und abermals zugeworfen. Jemand rief nach dem Steward.
Der Vampir hoffte, daß niemand auf die Idee kam und die Kammertür öffnete. Dann würde er töten müssen.
Der Gedanke hatte sich kaum in seinem Hirn eingenistet, als die Hoffnung zerplatzte.
Blitzschnell wurde die Klinke nach unten gedrückt und die Tür aufgezogen.
Lichtschein flutete in die Kammer.
Der Vampir duckte sich.
Zwei Kindergesichter schauten in das Dunkel.
»Du, Jimmy«, wisperte einer der Jungen. »Da ist einer.«
Der Vampir spannte die Muskeln. Auch wenn es Kinder waren, er kannte kein Gefühl, mußte töten.
»Jimmy, Harry! Kommt sofort her!« rief eine übernervöse Frauenstimme.
»Verdammt«, fluchte der mit Jimmy angeredete. »Aber die Kammer sehen wir uns heute abend an.«
»Jimmy! Harry!«
»Ja doch.«
Die Tür wurde zugeknallt.
Der Vampir lächelte. Glück mußte man haben.
Er hatte sich auch inzwischen andere Kleider besorgt, unterschied sich jetzt nicht von den anderen Passagieren. Graf Tomaso trug einen dunkelblauen Anzug mit Nadelstreifen. Dazu ein blau getöntes Hemd, das am Hals offen stand. Man mußte ehrlich zugeben, daß diese Kleidung dem Vampir stand.
Und das war das Schlimme. Er konnte jetzt überall untertauchen. Niemandem würde er auffallen. Seine Opfer liefen wie von selbst in die Falle.
Graf Tomaso wartete noch ungefähr drei Stunden. Dann erst öffnete er die leichte Sperrholztür der Kammer einen Spalt breit.
Vorsichtig lugte er nach draußen.
Die Kammer befand sich am Ende eines langen Ganges, der momentan leer war.
Ein roter Sisalteppich dämpfte die Schritte. Die einzelnen Kabinentüren waren aus Holz und dunkelbraun gebeizt.
An der freien Seite des Ganges gab es in Hüfthöhe ein Geländer, an dem man sich bei schwerem Seegang festhalten konnte. Es mußte solch eine Griffstange geben, trotz der Stabilisatoren.
An der mit Holz getäfelten Wand brannten in Abständen kleine Kugellampen. Das Glas war braun gefärbt. Dadurch wirkte das Licht
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