GK0134 - Die Drachenburg
etwa, ich hätte sie gefressen?« Sandras Stimme klang ärgerlich.
»Um Himmels willen, Miß, so war das nicht gemeint. Nur – es ist seltsam, daß die beiden so mir nichts dir nichts verschwunden sind, und ich dachte, daß Sie vielleicht etwas gesehen hätten.«
»Nein, das habe ich nicht«, log Sandra Lee. »Ich bin nur in meiner Kabine gewesen und habe sie nicht einmal während der Mahlzeit verlassen. Genügt Ihnen das als Erklärung?«
Der Dürre nickte. »Selbstverständlich, Miß. Und entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich – äh werde dann weitersuchen.«
»Tun Sie das, Mister.«
Der Dürre deutete noch eine linkische Verbeugung an und verließ rückwärtsgehend die Kabine. Leise, drückte er die Tür ins Schloß. So ganz zufriedengestellt hatte ihn die Erklärung der Frau nicht. Die beiden Männer mußten bei ihr gewesen sein. Denn wie sonst sollten die Fußspuren mit den geriffelten Sohlen auf den Boden der kleinen Kabine gelangt sein…?
***
Der frische Seewind wühlte in Sandras Haaren und drückte ihren weitgeschnittenen Pullover gegen den schlanken Körper.
Sandra genoß den Wind. Sie hatte beide Hände auf der Reling liegen. Der Kasten mit dem Schwert stand zwischen ihren Beinen. Noch zwei Stunden Fahrt, und sie würden Thurso anlaufen.
Sandra Lee hatte es in ihrer Kabine nicht mehr ausgehalten. Sie war sich darin vorgekommen wie in einem Gefängnis. Eingeschlossen, beengt. Kurzentschlossen hatte sie das Schwert genommen und war nach oben an Deck gegangen.
Soweit Sandra erkennen konnte war sie die einzige Frau auf dem Deck der Fähre. Und sie hatte auch innerhalb weniger Zeit die Blicke der Männer auf sich gezogen. Etwas, was ihr gar nicht gefiel.
Natürlich blieb es nicht bei den Blicken. Ein anderer Fahrgast, der eine pelzgefütterte Jacke trug, stellte sich neben Sandra.
Die Untote nahm von dem Mann keine Notiz, sondern blickte weiter auf die gischtenden Wellenkämme, die ununterbrochen gegen die Fähre anliefen.
»Ist solch eine Fahrt allein nicht langweilig?« fragte der Mann, und Sandra erkannte am Akzent, daß sie einen Iren vor sich hatte.
»Nein, ganz und gar nicht, Mister. Ich bin sehr oft allein und fühle mich auch so am wohlsten.«
Der Mann lachte. »Ich habe verstanden. Aber sagen Sie bloß, Sie spielen Geige.« Seine behandschuhte Hand deutete auf den Kasten zwischen Sandras Füßen.
»Ja.«
»Phantastisch, ich bin auch ein Freund von Geigenmusik. Sie könnten mir mal etwas vorspielen. Am besten, wir gehen in meine Kabine, und dann hole ich…«
»Sie holen gar nichts!« Sandra bückte sich und hob den schmalen Koffer hoch. »Sie werden entschuldigen, aber ich bin auf Ihre Gesellschaft nicht unbedingt erpicht.«
Der Mann zuckte die Achseln und grinste etwas dümmlich hinter Sandra her, die auf die Tür zuging, die zum Niedergang führte, wo auch ihre Kabine lag.
Die See war rauher geworden, und die Fähre begann zu schlingern. Sandra stützte sich mit der Hand an der Gangway ab, als sie auf die Kabine zuging.
Und plötzlich weiteten sich ihre Augen.
Die Tür stand einen Spalt offen.
Sandra war ganz sicher, daß sie die Tür geschlossen hatte, bevor sie auf Deck gegangen war.
Jemand befand sich also in ihrer Kabine. Ein ungebetener Besucher.
Sandra stieß die Tür auf.
Der ungebetene Gast hatte sie gar nicht gehört. Er kniete auf der Erde und leuchtete mit einer Taschenlampe unter das Bett.
Sandra blieb stehen und warf mit einem Ruck die Tür ins Schloß.
Wie von der Tarantel gestochen flog der Eindringling herum. Es war niemand anderes als der dürre Kartenabreißer mit der viel zu großen Mütze, der Sandra schon mal besucht hatte.
Der Mann schaute Sandra an wie einen Geist. Und im übertragenen Sinne war sie das ja auch.
»Darf ich wissen, was Sie in meiner Kabine suchen?« fragte Sandra und lächelte schmal.
Der Dünne stand auf. Er hatte sich vorgenommen, die Wahrheit zu sagen.
»Ja«, erwiderte er, »ich werde Ihnen erklären, was ich hier gesucht habe. Ich wollte eine Antwort auf die Frage finden, weshalb Sie mich belogen haben.«
»Belogen?« Sandra hob die Augenbrauen.
»Genau. Sie haben mir erzählt, die beiden Männer wären nicht in Ihrer Kabine gewesen.«
»Sie waren es auch nicht.«
Der Dünne begann zu lachen. »Und die Fußspuren auf dem Boden? Stammen die vielleicht von Ihnen? Ich wußte gar nicht, daß Sie solch eine große Schuhgröße haben. Nein, Miß, Sie haben mich eiskalt belogen. Und ich will wissen warum!«
Sandra Lee
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