GK0141 - Irrfahrt ins Jenseits
konfrontiert, die sie sich in ihrer kühnsten Phantasie nicht vorgestellt hatte, die selbst bei einem Erwachsenen einen Nervenschock ausgelöst hätten.
Die Fackel entfiel den zitternden Fingern des Mädchens und brannte auf dem Steinboden weiter.
Auf dem Absatz warf sich Alice herum, prallte gegen den Gesichtslosen und schrie: »Nein! Ich will da nicht hinein! Ich will nicht sterben! Ich will nicht! Ich will nicht!« Verzweifelt trommelte sie mit ihren kleinen Fäusten gegen den Körper des Gesichtslosen, bis eine kalte Hand ihren Schrei erstickte.
Der Gesichtslose schüttelte das Kind durch. »Bist du verrückt!« schrie er. »Du gehörst dem Kelem, du kannst ihm nicht entgehen! Hast du verstanden?«
Alice hatte sich wieder beruhigt. Ihr Schreien war in ein trockenes Schluchzen übergegangen.
Mitleidslos stieß der Gesichtslose den schmalen Mädchenkörper von sich.
»Hör auf!« zischte der Unheimliche. »Sei froh, daß du in das Reich der Finsternis eingehen darfst. Es ist eine große Sache, für den Kelem zu sterben. Sieh dort die Tür.« Der Gesichtslose streckte den Arm zur Seite und deutete auf eine Holztür, die in ein anderes Verlies führte. »Dort wartet der Kelem auf dich. Er lechzt nach deiner Lebenskraft, und du wirst sie ihm geben.«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Ich will aber nicht sterben«, schluchzte es unter Tränen. »Ich will nicht!«
Der Gesichtslose packte das Kind und drehte seinen Kopf so, daß Alice in einen offenen Steinsarg blicken konnte. Es war der erste in der Reihe.
Eine Frau lag darin. Sie lag auf dem Rücken und hatte die Arme über der Brust verschränkt. Selbst im Licht der Fackel konnte man erkennen, wie bleich ihr Gesicht war. Die Tote hatte die Lippen halb geöffnet. Sie gaben eine Reihe weißer Zähne frei.
Alice Paine starrte die Leiche an. Sie sah zum erstenmal in ihrem Leben eine Tote. Sie kannte den Anblick nur aus Erzählungen, hatte sich aber immer davor gefürchtet. Doch nun wunderte sie sich, wie friedlich diese Tote dort lag.
Der Gesichtslose ging weiter.
Jede Leiche mußte sich das Kind ansehen. Alice Paine wurde abgestumpft. Sie sah zwar die Toten, doch der Anblick prägte sich nicht mehr in ihr Gedächtnis ein. Es hatte sich eine Art natürliche Schutzbarriere gebildet und das war gut so.
Alice ging wie eine Marionette, die am Faden ihres Vorführers hing.
Im letzten Sarg lag Mike O’Shea. Sein Gesicht war eine Grimasse des Grauens. Er hatte in den letzten Sekunden seines Lebens all den Schrecken und das Grauen kennengelernt, das Alice Paine noch vor sich hatte.
Dann blieb sie vor dem für sie reservierten Sarg stehen.
Er war genauso groß wie die anderen und ebenfalls aus Stein. Es gab kein Kissen, kein Leichentuch – nichts. Nur die Kälte des Todes strahlte aus diesem schrecklichen Sarg.
Alices Lippen bewegten sich wie im Selbstgespräch, doch es kam kein Laut aus ihrem Mund.
»Nun, hast du genug gesehen?« ertönte hinter ihr die Stimme des Gesichtslosen.
Alice Paine gab keine Antwort. Sie stand stur auf dem Fleck und starrte in den für sie vorgesehenen Sarg.
Der Gesichtslose beugte sich vor. »Ich werde dich jetzt allein lassen«, sagte er. »Der Kelem wird bald kommen und dich holen. Nutze die Zeit, die dir noch bleibt.«
Alice hörte die Worte zwar, verstand sie aber nicht.
Unhörbar zog sich der Gesichtslose zurück, öffnete die Tür und verschwand.
Dumpf fiel sie wieder ins Schloß.
Alice Paine war allein. Allein mit sechs Toten…
***
Nicht ein Laut unterbrach die Stille in dem makabren Verlies. Immer noch stand das Kind unbeweglich auf dem Fleck. Die Fackel lag am Boden und brannte weiter. Ihr Schein geisterte über die Wände und übergoß auch das starre schreckensbleiche Gesicht des Kindes mit einem rötlichen Schimmer.
Die Zeit verging.
Und plötzlich vernahm Alice Paine ein grauenvolles Stöhnen.
Die Haltung des Mädchens spannte sich.
Das Stöhnen war nicht aus diesem Verlies gekommen, nein, es mußte hinter der Tür gewesen sein, die zum Reich des Kelems führte.
War es jetzt soweit? Kam der Kelem jetzt, um sie zu holen?
Alice Paine starrte auf das Holz der Tür. Überlaut schlug ihr kleines Herz. Das blonde Haar klebte ihr in der Stirn. Ihr Gesicht war tränenfeucht.
Eine Spinne krabbelte über den Boden. Ihre dünnen Beine bewegten sich schnell, und Alice hatte das Gefühl, als hätte auch die Spinne Angst vor dem Kelem.
Das Tier verschwand im Spalt einer Mauerritze. Alice Paine wünschte sich, auch
Weitere Kostenlose Bücher