GK064 - Vögel des Todes
leichte Müdigkeit. Sie hätte gern gerastet, doch irgendetwas in ihr ließ das nicht zu.
Weiter, raunte es in ihr. Geh weiter!
Der kaum wahrnehmbare Pfad wand sich den kahlen Berg hinauf. Eine Schlange zog sich zischend von ihrem Felsen zurück, auf dem sie die letzten Strahlen der untergehenden Sonne genossen hatte.
Zwielicht ließ die Landschaft gespenstisch erscheinen.
Wenig später schon setzte die Dämmerung ein.
Nun blieb Rosalind Peckinpah zum ersten Mal stehen. Ihr Atem ging schnell. Die Beine schmerzten. Sie wischte die kleinen Blutstropfen weg und benetzte die Wunden mit Speichel. Als sie sich umwandte, sah sie, dass im Dorf verschiedentlich bereits Lichter brannten.
Torroella bereitete sich auf die kommende Nacht vor.
Einen Augenblick dachte die junge Frau daran, ihr Vorhaben – zumindest für heute abzubrechen. Wenn die Dämmerung erst mal der Nacht gewichen war, würde sie auf ihrem Weg kaum etwas erkennen können.
Bestimmt war es nicht die Furcht vor der Finsternis, die sie so denken ließ. Sie hatte keine Angst. Nicht einmal jetzt, wo sie dem Castell bereits sehr nahe gekommen war.
Irgendetwas zwang sie, weiterzugehen.
Ihr Blick war ausdruckslos auf die allmählich dunkelgrau werdenden Mauern des Castells gerichtet. Drohend hob sich die Burg vom finster werdenden Abendhimmel ab.
Eine unerklärliche Kälte schlich sich in die Glieder der jungen Engländerin. Sie fühlte die Gänsehaut und wurde von mehreren Schauern geschüttelt. Trotzdem war sie nicht imstande, sich umzuwenden und schnellstens nach Torroella zurückzugehen.
Sie sah den mächtigen schwarzen Schatten nicht, der über den eckigen Zinnen des Castells schwebte.
Noch hörte sie den gewaltigen Flügelschlag nicht, und sie sah den geisterhaften Geier nicht auf sich zukommen.
Doch dann vernahm sie das Geräusch der schweren Schwingen.
Sie hörte dieses Geräusch direkt über sich, und als sie erschrocken den Kopf hob, konnte sie den Himmel nicht sehen.
Stattdessen sah sie den langen und breiten gefiederten Körper eines riesigen schwarzen Geiers, der in diesem fürchterlichen Augenblick aus der Luft auf sie hinabstieß.
Wie blitzende Dolche sahen seine Grauen erregenden Krallen aus.
Sie waren der jungen Frau entgegengestreckt, sprangen in diesem schrecklichen Moment wie stählerne Fangeisen auf, um sich schon im nächsten Augenblick in das Fleisch des Opfers zu bohren.
Rosalind spürte die Verletzungen an der Schulter. Sie schrie entsetzt auf und schlug verzweifelt um sich.
Doch die Fänge des Blutgeiers ließen sie nicht mehr los.
Das geisterhafte Tier riss sie nieder und begrub sie unter seinem mächtigen schwarzen Körper.
Trotz der schrecklichen Schmerzen wehrte sich die junge Frau nach Kräften. Sie schrie gellend um Hilfe, während sie ihre Finger in das Gefieder des Geiers krallte und keuchend daran riss und zerrte.
Der mächtige Vogel begann mit seinen weit ausspannenden Flügeln zu schlagen.
Rosalind Peckinpah fühlte sich hochgerissen. In der nächsten Sekunde stellte sie voll Grauen fest, dass sie keinen Boden mehr unter sich spürte.
Rasende Angst drohte ihr Herz zum Stillstand zu bringen.
Sie vergaß vor Entsetzen die furchtbaren Schmerzen, die ihr die harten Fänge des schrecklichen Vogels zufügten.
Über ihr schlugen die schweren Flügel.
Unter ihr strich die Landschaft vorbei.
Schnell näherten sie sich dem gespenstischen Castell.
Baumelnd hing die unglückliche Frau in den scharfen Krallen des Geiers.
Ein Sturz aus dieser Höhe musste tödlich sein. Trotzdem wünschte sich Rosalind, die Fänge des schrecklichen Scheusals mögen sich öffnen und sie freigeben, denn die Schmerzen quälten sie so sehr, dass sie sie kaum noch ertragen konnte.
Die Zinnen von Castell Montgri flogen förmlich auf sie zu.
Als Rosalind Peckinpah darüber hinwegschwebte, wusste sie, dass sie verloren war.
Ihr gellender Schrei zerfaserte im sanften Abendwind.
Niemand hörte ihn.
Es war, als hätte ihn die Unglückliche niemals ausgestoßen.
***
Manuel Alvarez hatte nicht nur ein gutes Herz, sondern auch ein Gewissen, das ihn ab und zu stärker quälte, als ihm lieb war.
Nachdem er einen Karpfen gebraten und gegessen hatte, verließ er sein Haus, in dem er seit dem Tod seiner Eltern allein wohnte.
Er eilte die schmale Straße entlang, bog um die nächste Ecke, kam an der geschlossenen Bäckerei vorbei und erreichte nach einigen Minuten das Hotel, in dem Rosalind Peckinpah wohnte.
Das Haus war das Beste am Platz.
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