GK436 - Die Geißel der Menschheit
Nacht.« Camilla legte den Hörer in die Gabel. Seltsam einsam kam sie sich auf einmal vor. Noch nie war ihr das Alleinsein so unangenehm gewesen. Sie fühlte sich schutzlos, verletzbar, gefährdet. Sie glaubte sich angestarrt.
Aber nicht von jener naturgetreuen Skizze, die schräg im Schrank lehnte.
Die Blicke, die sie fühlbar trafen, mußten vom Fenster her kommen. Camilla wagte nicht hinzusehen.
Sie fürchtete sich vor der Wahrheit. Wenn tatsächlich jemand zum Fenster hereinsah, jemand, der ihr Böses wollte, was sollte sie dann tun? Aufgeregt nagte sie an der Unterlippe.
Sollte sie einen Blick riskieren? Sie brauchte Gewißheit, denn die Ungewißheit machte sie krank. Vielleicht bildete sie sich nur ein, angestarrt zu werden.
Entschlossen gab sie sich einen Ruck. Sie wandte sich dem Fenster zu, und in derselben Sekunde übersprang ihr Herz einen Schlag, denn am Fenster stand wirklich jemand.
Ein Mann, mit einem furchterregenden Gesicht, das Ähnlichkeit mit einem grinsenden Totenschädel hatte.
Das war Carrago!
Er war zurückgekehrt!
***
Das Kloster in Holborn war ein großes altes Gebäude, umgeben von efeubewachsenen hohen Mauern. Es war ein Zeuge der Vergangenheit, hatte hier schon gestanden, als in London noch nicht von Mondflügen, Atombomben und Discos die Rede gewesen war.
Als wir den Innenhof betraten, hatten wir den Eindruck, einen Schritt in die Vergangenheit getan zu haben. Hier drinnen schien die Zeit stehengeblieben zu sein.
Es gab keine Unrast, keine Hektik, nur Frieden, Stille und Beschaulichkeit. Ein Klosterbruder namens Albert nahm uns in Empfang. Er musterte mich neugierig. Vielleicht war auch ein leichter Zweifel in seinem Blick. Er traute mir wohl nicht zu, daß ich im Kampf gegen die Hölle bestehen konnte. Zugegeben, an mir ist nichts Außergewöhnliches. Ich sehe aus wie jeder normale Mensch. Aber ich habe gelernt, mich gegen die Mächte der Finsternis zu behaupten, und ich bin im Besitz von Waffen, die Geister und Dämonen fürchten müssen.
Bruder Albert führte uns in das Arbeitszimmer des Klostervorstehers. Bruder Jonathan begrüßte uns wie alte Bekannte, obwohl wir einander noch nie gesehen hatten.
»Wir danken Ihnen, daß Sie so schnell zu uns gekommen sind, Mr. Ballard«, sagte Jonathan.
»Professor Selby fing uns am Flughafen ab«, erwiderte ich. »Er teilte uns mit, was passiert war, und wir sahen es sofort als unsere Pflicht an, uns um die Angelegenheit zu kümmern.«
»London geht schlimmen Zeiten entgegen, wenn Sie Arnie Goretta nicht schnellstens wiederfinden«, sagte Jonathan. Der Klostervorsteher überließ es ihm, zu sprechen. Er nickte nur hin und wieder bedeutungsvoll. »Arnie hatte vor drei Jahren eine Begegnung mit dem Bösen«, fuhr Jonathan fort. Wir erfuhren die Geschichte des kleinen Mannes. »Wir dachten, er wäre einigermaßen über den Berg, doch nun hat sich Carragos Geist in seinen Körper eingenistet und sich die sieben Dolche des Teufels geholt. Es wird viele Morde gebend wenn Sie den Besessenen nicht daran hindern.«
»Wo wurden die Dolche aufbewahrt?« fragte ich.
»Im Keller.«
»Dürfen wir den Raum sehen?«
»Selbstverständlich. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«
Wir verließen das Arbeitszimmer des Klostervorstehers. Er begleitete uns. Im Keller betrachteten wir die mehrfach gesicherte Tür, die Carrago allein niemals hätte öffnen können. Deshalb hatte er sich des Buchbinders als Werkzeug bedient, und er würde ihn fortan weiter benützen, wenn wir ihn nicht daran hinderten.
»Wir wollten ihn hier überwältigen«, sagte Bruder Jonathan. »Aber er war unglaublich kräftig. Wie Puppen wirbelte er uns durch die Luft, als wir ihn angriffen. Und er sagte: ›Ich bin nicht mehr Arnie Goretta. Ich bin jetzt Carrago!‹«
Wir betraten den kleinen Raum und sahen uns auch den zertrümmerten Glasschrank an. Mir war mulmig zumute. Carrago war also aus den Dimensionen des Grauens zurückgekehrt, und er hatte sich die sieben Dolche des Teufels geholt. Es war ihm gelungen, das Kloster zu verlassen, und nun trieb er sich irgendwo in der Stadt herum.
Eine schreckliche Vorstellung.
Carrago, die Geißel der Menschheit, war wieder in London auf der Jagd!
Wer die Ausdehnung dieser Riesenstadt kennt, weiß, was uns bevorstand. Wo sollten wir Carrago suchen? Wo würde er zuerst zuschlagen? Hatte er Pläne? Oder würde er wahllos töten? Einfach jeden, der ihm über den Weg lief…
Viele Fragen stürmten auf mich ein, und ich konnte keine
Weitere Kostenlose Bücher