GLÄSERN (German Edition)
Umständen hätte ich ihm dafür eine Ohrfeige gegeben, doch es schien mir seit geraumer Zeit schon, dass sich jeder in meiner Nähe stündlich der Grenze zum Wahnsinn ein Stück näherte. Oder hatten wir sie bereits überschritten und teilten uns nun den Logenplatz für das gemeinsame Aufgeben des gesunden Geistes? Allein, dass er von dem Verbrechen wusste, welches sich vor einigen Jahren in Wilthsire ereignet hatte, und er sich im Suff daran erinnerte, ließ mich aufhorchen. Damals ereignete sich in der englischen Grafschaft Scotland Yards erster nennenswerter Fall, im Road Hill House, wo wir zum Ende der Ermittlungen hin, die Mr. Jack Whicher leitete, picknickten. Ein spannender Sommer. Wenn auch nicht in Schottland, da hatte kaum jemand von dem grauenhaften Mord gehört.
Wie auch immer, wer konnte das schon alles wissen. Also steckte ich das Buttermesser in den Hosenbund, holte die letzte Flasche Whiskey aus dem unteren Regal – ein ekelerregend saures Gebräu und sicherlich jenseits jeglicher Kulanz – füllte alle Gläser, die noch herumstanden, bis zum Rand, und bald lagen wir uns in den Armen, wie die Mitglieder eines schwulen Männerclubs nach einer brisanten Überdosis fragwürdigen Tabaks. Die einzige Möglichkeit, einen schädlichen Gedanken daran zu hindern, aus seinem Sumpf emporzusteigen und seine schauerliche Gestalt anzunehmen, war es wohl, dem Alkohol erneut zuzusprechen. Denn Kierans Anspielung auf die Besen in direkter Verbindung mit der Hexe, die in Eirwyn offensichtlich steckte, kam in diesem Falle ausnahmsweise nicht von ungefähr. Noch ehe das Bild von dem nächtlichen Mondritual und Eirwyns tränenreichem Pakt mit dem tanzenden blauen Irrlicht ganz durch die Dunkelheit an die Oberfläche treiben konnte, leerte ich ohne zu zögern alle Gläser, noch vor dem Jägersmann.
›Nicht du, Frederick‹ , hörte ich die Stimme Eirwyns in meinem Kopf. ›Ginivers kleines Leben als mein Opfer an die Mondgöttin, doch niemals deines.‹
Etwas sprach die Worte aus, die ich so lange in meinem Herzen getragen hatte, die sich nie an der Oberfläche zeigen wollten; die sich geweigert hatten, ihre offensichtliche, falsche Gestalt anzunehmen.
Von diesem Abend an war mir alles egal und ich erkannte, dass die alten Tage der Freundschaft und der heilen Welt auf Amaranth Manor unwiederbringlich vorbei waren. Die neue Ära brach an und ich konnte nichts dagegen tun, als mich ihr zu fügen. Ein Happy Ending wie in den Märchen in der Bibliothek wäre jedenfalls niemandem vergönnt gewesen, als meiner Herrin. Diese einst gütige, liebvolle Frau mit den seltsamen Augen und der schönsten Tochter – die ihr stets die Abscheu und das Desinteresse der Gesellschaft entgegengebracht hatten – die sich langsam selbst vergiftet hatten mit ihrem Eigennutz und Starrsinn … aber ich schweifte erneut ab. Es war Zeit zu vergessen, was in mir loderte wie eine tückische Flamme … eine Ahnung, ein Verdacht, der mir Angst machte – große Angst.
Um meinen Kopf zu klären, brachte ich Kieran dazu, während des Restes der Nacht alle Regeln zu brechen. Kieran schnappte sich eine der letzten Flaschen ekelig süßen Rotweins. Damit, und mit einer beachtlichen Menge Tabak, rannten wir die Anhöhe hinab, direkt hinein in den Wilden Wald. Er verschlang uns sofort mit Haut, Haar und sämtlichen Genussmitteln. Sein unwirklich wogendes Grün, die sich mechanisch ringelnden, transparenten Blätter und Farne, ließen unsere Wahrnehmung zusätzlich verrücktspielen. Reif lag wie weißer Atem auf ihnen und stob davon, sobald wir johlend vorbeirauschten. Wir ignorierten die Irrlichter, beziehungsweise ich tat es und hielt Kieran davon ab, ihnen freudig hinterherzurennen. Wir tanzten torkelnd noch eine ganze Weile zwischen den fauligen Hängepflanzen, die uns aus den Baumkronen mit ihren langen, flachen Armen zu umschlingen suchten, schlugen hemmungslos über die Stränge, bis wir zwischen den freiliegenden Wurzeln eines alten, krummen Baumes niedertaumelten. Über uns der Sichelmond mit seiner schwachen, jedoch noch spürbaren magischen Energie, war der einzige Zeuge, als wir diese letzte Flasche leerten, uns einen Vorrat krummer Zigaretten drehten und schließlich erschöpft aneinander sanken. So saßen wir eine Weile Schulter an Schulter, mein Gesicht in das weiche Haar Kierans vergraben. Er duftete wahnsinnig gut, männlich und auch martialisch, durch den Alkohol, den Schweiß seiner hitzigen Analysen. Ich atmete tief ein und hielt
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