GLÄSERN (German Edition)
ich auch meine verlorenen Träume und geheimen Wünsche. Was soll das alles?, fragte ich mich. Was soll das alles sein, wenn wir so einfach von hier gehen, ohne dass viel mehr von uns bleibt als eine Hülle? Wie kann ich endlich aufhören zu fallen? Und warum fing sie mich nicht auf, bevor sie endgültig gehen musste?
Dann ließen wir den Sarg langsam mit vereinten Kräften an dicken Tauen in die dunkle feuchte Grube hinab, während violettfarbene Rosenköpfe nach und nach, gemeinsam mit den feinen Regentropfen und rutschenden Erdklumpen, die Totenkiste bedeckten. Der Wintergarten an der Nordseite musste schauerlich aussehen, mit all den gerupften Blumenstängeln.
Endlich, als das Seil schlaff aus meinen behandschuhten Fingern in die Erde glitt, schwor ich mir feierlich, ihr zu vergeben, was längst hätte vergeben werden müssen. Reue überkam mich, dass ich ihr nicht zu Lebzeiten noch gesagt hatte, wie sehr ich sie mochte. Dass ich sie zwar immer geführt und behütet hatte, ihr jedoch nie die stumm geforderte Zärtlichkeit über unsere geschwisterliche Zuneigung hinaus geboten hatte. In diesem Moment, glaube ich, begriff ich zum ersten Mal den übermäßigen Verlust. Die Leere kam hart und eiskalt, als ich kraftlos am Rande des Grabes auf die Knie sank und endlich völlig frei zu weinen anfing. Ich verspürte nicht das Bedürfnis, die Tränenflut aufzuhalten, die zwischen meinen Fingern über das Leder rann. Sie reinigte mich von innen, spülte alle Angst, Wut und Hilflosigkeit regelrecht aus mir heraus. Bald bemerkte ich, dass ich allein war. Wankend stemmte ich mich mit den Händen vom Boden hoch, sammelte mich noch einige Augenblicke, in denen ich mich einfach nicht von meiner Seelenfreundin trennen wollte. Dann jedoch wandte ich mich entschlossen um. Einige Schritte weiter warteten die neuen Bediensteten – alle drei. Sie hielten die Hände vor den Bäuchen locker ineinander gelegt und beobachteten mich mit maskenhaften Gesichtern. Sie nahmen mich in ihre Mitte. Wir stiegen den restlichen kurzen Weg hinauf, bereit, auch auf kulinarische Weise meiner besten Freundin Lebewohl zu sagen.
Zum Leichenschmaus ließ sich die Lady entschuldigen. Man servierte eine Kleinigkeit aus Käse, Bärlauch und geröstetem Brot. Eirwyns aufmunternde Blicke sollten mich wohl zu einer Rede anhalten. Wie sehr ich das doch hasste. Dennoch, ich erhob mein Glas und wartete, bis bei allen Anwesenden Ruhe einkehrte.
»Verehrte Trauergäste«, hob ich an. Nein, Freunde wäre ein zu großes Wort gewesen, das sie alle nicht verdient hatten. »Einige wenige Worte von mir nun für meine besondere Freundin, die ein Fremder meines Erachtens nicht aussprechen kann.« Ich stockte und blickte in traurige Augen, ob der so jungen Frau, die nun im Erdreich allein lag, erwartungsvoll und vielleicht ein wenig zuversichtlich, als könnte ich mit den folgenden Worten allen Gram von ihnen nehmen. Es tat mir leid, sie enttäuschen zu müssen. Dennoch fuhr ich fort. »Aus der Tiefe meines Herzens möchte ich Folgendes sagen: Was vor ihrer Zeit für mich hässlich und erschreckend war …« – wie meine eigene Vergangenheit und meine Einsamkeit – »… glänzte seit ihrer Ankunft in liebevollem Licht. Unsere …« Mir lag so vieles auf der Zunge, was ich hätte sagen wollen. Dennoch beschloss ich, dass gemeinsame Erlebnisse und solcher Kram allein in meinem Kopf umher dümpeln sollten. »… unsere Beziehung ging über alles hinaus. Über alles, das man sich vorstellen kann.« Ich schluckte verkrampft und hob die Augen. »Sie war mein Leben, wie ich es mir wünschte. Und ich war stets ihr Diener.«
Sehr melodramatisch und äußerst wirkungsvoll, wie ich in diversen Augenpaaren erkennen konnte, in denen bereits Hochwasser stand. Müde fiel ich auf den Stuhl zurück. Niemand wagte, meinen Blick zu kreuzen. Sie waren alle Ausgeschlossene für mich, nicht wert, ihren Abschied von dieser Welt zu begleiten. Sogleich fuhren sie mit dem Speisen fort und ich verachtete sie dafür; mehr jedoch mich selbst, da auch ich bald zugriff, denn das letzte Essen, das diese Bezeichnung verdient hätte, lag eine Weile zurück. Später sprach ich dann doch dem wunderbaren Single Cask zu, der irgendwann von irgendjemandem irgendwoher geholt worden war. Nach und nach warf Kieran die Beerdigungsgesellschaft hinaus und die undurchdringliche Nacht füllte ein wenig die Leere in mir wie der Grund einer Pfütze, der allmählich volllief. Zurück blieben Eirwyn, Kieran und ich.
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