GLÄSERN (German Edition)
an der Nasenspitze traf, und kletterte hinauf in die Baumkrone. Er war viel zu langsam, überprüfte jeden Ast mehrmals, obwohl er von hier unten absolut stabil aussah. Doch schließlich hatte sogar er es geschafft. Er zerrte lange und verbissen an dem Teil, dass wir schon fürchteten, es könnte stückweise unten bei uns ankommen, doch endlich schaffte er es, den Spiegel freizubekommen, und ließ ihn an den Fingerspitzen hinab in meine ausgestreckten Arme gleiten.
Der Spiegel war weit weniger schwer, als ich angenommen hatte. Dünner Frost bedeckte ihn leicht wie feiner Sand, ansonsten war er erstaunlich sauber. Ich wischte ihn mit dem Mantel des Kutschers penibel ab und betrachtete ihn verzückt. Beinahe erwartete ich, dass meine Lady zu mir sprach, doch er blieb ruhig, einfach ein Gebrauchsgegenstand. Auch Eirwyn sah ihn sich zuerst abwartend, dann erfreut an.
»Wie nur, ist er dort hinaufgelangt?«, fragte sie niemanden bestimmten.
»Wen interessiert das? Er ist wunderschön. So dekadent!«, freute ich mich.
Doch Eirwyn gab nicht auf. »Mich interessiert das, Frederick. Es muss doch einen Sinn haben, dass ihn jemand so hoch oben zurückließ.«
»Und wenn schon, jetzt jedenfalls gehört er mir, mir, mir«, triumphierte ich. »Ich nehme nicht an, dass du wirklich Verwendung dafür hättest.«
Wir wickelten ihn in einige Kleidungsstücke und brachen auf, um den Wald endlich zu verlassen, noch ehe die Dunkelheit uns völlig einhüllte. Anscheinend hatten wir die Größe des Waldes erneut unterschätzt, denn schon nach einer Stunde mussten wir anhalten, um die Laternen zu entzünden und die Rösser zu versorgen. So hielten wir also an einer der zahlreichen Quellen. Sorgfältig holte ich, während Eirwyn sich noch etwas um Kieran kümmerte, den schwarzen Spiegel hervor, schöpfte behutsam etwas Wasser aus einem kleinen Eisloch auf die Fläche, um sie noch etwas gründlicher zu reinigen. Sofort erblindete er und überzog sich mit dünnem Raureif. Liebevoll schrieb ich mit dem Finger Ginivers Namen auf die Fläche und besah ihn einige Sekunden. Bei dieser Gelegenheit frisierte ich mich ein wenig, als mit einem Mal Bewegung in das vertraute Bildnis geriet. Entsetzt fasste ich mir an die Brust, als mir Ginivers Antlitz entgegenblickte. Nicht sie selbst, nein, ihr schieres Bildnis schwamm dort schwach illuminiert wie eine kleine Kerze im Wasser. Hektisch interpretierte ich alles hinein, was mir sinnvoll erschien, und gelangte doch zu keinem vernünftigen Schluss. Doch ist Vernunft in einem solchen Falle nützlich? Mit etwas Mühe riss ich mich zusammen. Gefasst blickte ich in ihr rundes Gesicht. Ich fragte sie: »Was willst du mir sagen? Willst du mir etwas zeigen? Bitte …«
Sie sah mich ruhig an. Dann folgte ein einziges Wort, das nicht aus ihren leicht geöffneten Lippen zu dringen schien, sondern aus allen Richtungen zugleich.
»Opferzeit.«
Schluchzend musste ich zusehen, wie langsam, doch unaufhaltsam, alles Licht aus ihr floss und wenige Augenblicke später blieb mir nichts weiter als ein fahles, leeres Gesicht – meines. Jegliche Hemmung entwich mir und ich ging heulend in die Knie. Die Kutscher riefen bald zur Weiterfahrt. Ich rappelte mich auf und wischte mir nicht einmal mehr Schnee und Tränen ab.
Eirwyn sah mich besorgt fragend an, als ich auf sie zu stolperte, doch sie akzeptierte, dass ich schweigend einstieg. Die Rappen stürmten geradezu los. Den Spiegel hielt ich während der restlichen Fahrt mit meinen Füßen auf der Fußstütze umklammert. Obwohl mir der dicke Rahmen alsbald in die Stiefel schnitt, konnte ich so die ganze Zeit darauf warten, dass mir meine Freundin ein Zeichen sandte, was mit ihr geschehen war. Es war zwar zu erwarten, dass das nicht geschah, dennoch stirbt die Hoffnung oftmals zuletzt, wie man sagt.
Mit den letzten Bäumen ließen wir auch jedes magische Gefühl im Wald zurück. Eirwyn saß steif wie eine Puppe und betrachtete ihren dösenden Geliebten mit abwesendem Blick. Dieser schwitzte inzwischen heftig, trotz der Kühle des Morgens. Ich kapitulierte, da meine Arme eingeschlafen waren, den Spiegel weiterhin zu drehen und zu wenden, um ein anderes Bild als das meine darin zu erzwingen.
Bald hielten wir erneut beim ›Hinkenden Kobold‹. Allein der Anwesenheit einer wohlgekleideten und wunderschönen Dame verdankten wir weit bessere Logis als zuvor. Wir besetzten die gesamte Bar, da kein Tisch mehr frei war, vom üblichen Gelumpe, das nach Feierabend meist gleich
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