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GLÄSERN (German Edition)

GLÄSERN (German Edition)

Titel: GLÄSERN (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rona Walter
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in dieser vermaledeiten Kutsche!«
    »Als ob ich dir nicht eine Pflegerin holen lassen würde«, schalt sie ihn.
    Wir halfen ihm mit vereinten Kräften bei der Morgentoilette (bei der mir Eirwyn lediglich erlaubte, den Oberkörper zu säubern und ihm das Haar zu binden) und torkelten zu dritt die enge Stiege hinunter in den Schankraum, wobei unsere Schultern mehr von der Tapete niederrissen, als ich zuvor überhaupt daran entdeckt hatte. Dort trafen wir in einer Nische den Lord und die Kutscher an. Wieder fehlte mir meine Freundin bei dem Anblick der versammelten Gesellschaft. Sie wäre sicherlich bei Kieran geblieben, hätte ihn aufgepäppelt, liebevoller, als er es verdient hätte.
    Zuerst bestellten wir ein ausgewogenes Frühstück aus wässrigem Ei und hartem Brot (Würstchen schienen aus zu sein), eine fingerdicke Scheibe Brot für jeden und spülten bitteren Tee, scheinbar aus von irgendwelchem modrigen Wurzelwerk geschälte Rinde, durch unsere Kehlen.
    Gegenüber unserer Runde stand eine aufwendig gedrechselte Bank, auf der ein alter Mann kauerte. In einem Mundwinkel hing eine erloschene Pfeife. Mit den gekrümmten fleckigen Fingern umklammerte er einen dicken, leinengebundenen Wälzer. Neugierig erhob ich mich und schlenderte zu ihm hinüber. Hier auf einen Lesenden zu stoßen war so logisch, wie eine Buttel billiger Fusel in den Gemächern der Lady. Vor ihm ging ich in die Hocke, um den Titel zu erhaschen.
    »Heutzutage wird wohl niemand mehr dieses Werk mit ihrer überwältigenden Gelehrtheit vollständig lesen wollen«, bemerkte ich lächelnd auf Deutsch.
    Überrascht hob er die Augen. »Geschweige denn, es überhaupt können. Junger Mann, Sie erahnen wohl kaum, wann ich damit begonnen habe!«, sagte er in seltsamem Dialekt und schmunzelte.
    Es handelte sich um Robert Burtons seltene deutsche Übersetzung aus dem Jahr 1621, ›Die Anatomie der Melancholie‹. Ich studierte das faltige Antlitz des Greisen und bemühte mich, möglichst charmant zu klingen, als ich sagte: »Es ist zu erahnen.«
    Er lachte nun laut auf und schlug mit einer Hand auf die freie Sitzfläche neben sich, wobei Burton zwischen den dicken Buchdeckeln gefährlich aus dem Leim kippte.
    »Sie kommen nicht von hier, das sieht man sofort. Haben aber ein anständiges Deutsch gelernt … Engländer?«
    »Schotte!«
    »Ist doch alles dasselbe«, winkte er ab. »Alles jenseits der See. Hin, oder wieder zurück?«
    »Hin – nehme ich an. Wir durchquerten gestern Nacht den großen Wald.«
    Er nickte, als würde er genau verstehen.
    »Der Wald hat seine eigenen Gesetze, müssen Sie wissen. Die einfachen Leute hier glauben an Koboldwesen, die sich dort herumtreiben sollen, und einige Wenige huldigen ihnen sogar mit Opfern und Gesängen, sobald sie mal drei Maiskolben weniger ernten. Da wird morgens in die Kirche gehastet und am Abend dann führen sie sich im Wald auf, wie die größten Heiden.« Er beugte sich mir verschwörerisch entgegen. »Wissen Sie was, junger Mann? Mir scheint es, der Wald merke sich diese Huldigungen. Man sagt auch, er soll jeden eines Besseren belehren, der ihn ungläubig durchquert. Mit Zaubereien und solchem Zeugs.«
    Verschwörerisch zwinkerte er mir zu. Hinter meiner gerunzelten Stirn sah ich wieder die im Moos versunkenen, aufbäumenden Rösser. Ich habe immer an die Macht der Alten geglaubt, doch die Zahl der Zweifler war offensichtlich höher. Ich roch den sauren Atem des Alten, als er mich unverhohlen musterte und nicht die kleinste Anstalt machte, von meinem Gesicht zu weichen. Dann blickte er auf einmal kurz über meine Schulter und ein großer Schatten glitt an uns vorbei. Sandford, wie es roch. Die warmen braunen Augen des Mannes folgten dem Lord und er sagte mit ruhiger Stimme: »Lassen Sie sich etwas von mir mit auf den Weg geben, mein Junge …«
    Und dann erzählte er mir eine kurze Geschichte, die ich am liebsten aufgeschrieben hätte, die ich jedoch zum richtigen Zeitpunkt hier weitergeben werde. Ich lauschte aufmerksam und erst, als die Kutscher mit Gepäckstücken beladen an mir vorbeihuschten, bemerkte ich, dass die Gesellschaft längst zur Abfahrt bereit auf dem Hofe stand. Ich verabschiedete mich eilig und wollte mich für das nette Gespräch bedanken, doch scheinbar war ich bereits fort und vergessen für die alte Leseratte, denn er grummelte gerade unverständlich in seinen spärlichen Bart, »Soll man alles nie unterschätzen, auch wenn´s Humbug is´, näch«, und würdigte mich keines Blickes

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