Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)
Schmach entgehen, die er wie ein peinvolles Traumgesicht vor Augen hatte.
Jakob Collin wurde als der gefährlichere der beiden Untersuchungsgefangenen in eine Zelle gebracht, die ganz aus Quadern gebaut war und ihr Licht aus einem jener kleinen inneren Höfe bezog, wie man sie im Umkreis des Palastes findet; sie lag in dem Flügel, in dem der Staatsanwalt sein Zimmer hat. Dieser kleine Hof dient für die Abteilung der Frauen als Spaziergang. Lucien wurde auf demselben Wege in eine Zelle geführt, die den Pistolen benachbart war, denn nach den vom Untersuchungsrichter gegebenen Befehlen nahm der Direktor ein wenig Rücksicht auf ihn.
Im allgemeinen machen sich Leute, die niemals mit den Gerichten zu tun haben werden, die schwärzesten Vorstellungen über die Einzelhaft. Die Vorstellung von der Kriminalgerichtsbarkeit ist immer noch nicht frei von den alten Begriffen der ehemaligen Folter, der Ungesundheit der Gefängnisse, der kalten Steinmauern, aus denen Tränen sickern, der Grobheit der Schließer und der schlechten Ernährung, jener obligatorischen Zutaten des Dramas; aber es ist nicht unnötig, hier einmal zu sagen, daß diese Übertreibungen nur auf dem Theater vorhanden sind; Richter und Anwälte und alle, die die Gefängnisse aus Neugier besuchen oder sie studieren, lächeln darüber. Lange war es furchtbar. Es ist sicher, daß unter dem alten Obergericht, in den Jahrhunderten Ludwigs XIII. und Ludwigs XIV., die Angeklagten wirr durcheinander in eine Art Zwischenstock über dem alten Portal geworfen wurden. Die Gefängnisse waren auch eins der Verbrechen der Revolution von 1789, und es genügt, den Kerker der Königin und den der Frau Elisabeth zu sehen, um einen tiefen Abscheu vor den ehemaligen Formen der Gerichtsbarkeit zu empfinden. Aber heute hat die Philanthropie, wenn sie der Gesellschaft auch unberechenbaren Schaden angetan hat, doch den Einzelwesen einigen Nutzen gebracht. Wir verdanken unsern Strafkodex Napoleon; und er wird in höherem Grade als der Zivilkodex, der in einigen Punkten dringend der Reform bedürftig ist, eins der größten Monumente dieser so kurzen Regierung bleiben. Dieses neue Strafrecht schüttete einen ganzen Abgrund voll Leiden zu. Daher kann man auch, abgesehen von den grauenhaften moralischen Foltern, denen die Angehörigen der oberen Klassen ausgesetzt sind, wenn sie sich in den Händen der Gerichtsbarkeit sehen, behaupten, daß die Handhabung dieser Macht von einer Milde und einer Einfachheit ist, die nur um so größer erscheinen, als sie unerwartet sind. Der Beschuldigte und der Untersuchungsgefangene wohnen sicherlich nicht wie zu Hause; aber alles Notwendige findet man in den Pariser Gefängnissen. Übrigens nimmt das Drückende der Empfindungen, denen man sich überläßt, den Nebendingen des Lebens ihre gewöhnliche Bedeutung. Nie leidet der Körper. Der Geist ist in einem so erregten Zustand, daß jedes Unbehagen, jede Brutalität – wenn man sie in dem Milieu, in dem man sich befindet, antrifft – leicht zu ertragen wäre. Und man muß zugeben, daß der Unschuldige, zumal in Paris, schnell in Freiheit gesetzt wird.
Lucien fand also, als er seine Zelle betrat, das genaue Abbild des ersten Zimmers vor, das er im Hotel Cluny ln Paris bewohnt hatte. Ein Bett, ähnlich dem der armseligeren Logierhäuser des Quartier latin, Stühle mit geflochtenem Strohsitz, ein Tisch und ein paar Geräte bildeten die Einrichtung einer jener Kammern, in denen man oft zwei Angeklagte zusammentut, wenn sie sich ruhig benehmen und ihre Verbrechen, Fälschungen oder Bankrotte, nicht weiter beunruhigen. Diese Ähnlichkeit zwischen seinem unschuldsvollen Anfang und dem Ende, der letzten Stufe der Schmach und Erniedrigung, rührte mit einem letzten Aufblitzen so stark an sein poetisches Empfinden, daß der Unglückliche in Tränen ausbrach. Er weinte vier Stunden lang, scheinbar empfindungslos wie eine Steinfigur, in Wirklichkeit aber leidend unter all seinen gestürzten Hoffnungen, getroffen in all seinen zermalmten sozialen Eitelkeiten, in seinem vernichteten Stolz, in all den verschiedenen Ichs, die der Ehrgeizige, der Liebhaber, der Glückliche, der Dandy, der Pariser, der Dichter, der Lüstling und der Bevorrechtigte darstellten. Alles war bei diesem Ikarussturz in ihm zerbrochen.
Carlos Herrera seinerseits schweifte, sowie er allein war, in seiner Zelle umher wie der weiße Bär des Jardin des Plantes in seinem Käfig. Er untersuchte sorgfältig die Tür und überzeugte sich, daß,
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