Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)
abgesehen von dem Guckloch, keine Öffnung darin angebracht war. Er prüfte alle Mauern, sah sich die Fensterblende an, durch deren Schlund ein schwaches Licht herabfiel, und sagte bei sich selber: ›Ich bin in Sicherheit!‹
Er setzte sich in einen Winkel, wo ihn das Auge eines Aufsehers von dem vergitterten Guckloch aus nicht sehen konnte. Dann nahm er die Perücke ab und entnahm ihr schnell ein Papier, das über ihren Boden hin angedrückt war. Die Seite dieses Papiers, die auf dem Kopf gelegen hatte, war so fettig, daß es die innere Oberfläche der Perücke zu sein schien. Wenn Bibi-Lupin auf den Gedanken gekommen wäre, diese Perücke abzunehmen, um die Identität des Spaniers mit Jakob Collin festzustellen, so hätte er dieses Papier nicht beargwöhnt, so sehr schien es zur Arbeit des Perückenmachers zu gehören. Die andere Seite des Papiers war noch weiß und sauber genug, um ein paar Zeilen aufzunehmen. Die schwierige und vorsichtige Arbeit des Loslösens hatte er schon in der Force begonnen; zwei Stunden hätten dazu nicht genügt, er hatte bereits den vorigen Tag zur Hälfte darauf verwandt. Der Gefangene schnitt zunächst von diesem kostbaren Papier einen Streifen von etwa acht bis zehn Millimeter Breite ab und teilte ihn in mehrere Stücke; dann legte er seinen Papiervorrat, nachdem er die Schicht von Gummiarabikum, mit deren Hilfe er die Klebkraft wieder herstellen konnte, befeuchtet hatte, in sein sonderbares Magazin zurück. In einer Strähne seines Haares suchte er einen jener Bleistifte, die so sein sind wie eine Nadel und deren neuerliche Erfindung man der Schweiz verdankte; er war dort mit Leim befestigt; er brach sich ein Stück ab, das lang genug war, um damit zu schreiben, und klein genug, um es im Ohr zu verbergen. Nachdem Jakob Collin diese Vorbereitungen mit der Geschwindigkeit und Sicherheit aller alten Sträflinge – sie sind behend wie die Affen – getroffen hatte, setzte er sich auf den Rand seines Bettes und begann, sich seine Anweisungen für Asien zu überlegen; denn er war überzeugt, daß er sie auf seinem Wege treffen würde, so sehr zählte er auf das Genie dieser Frau.
›In meinem vorläufigen Verhör‹, sagte er bei sich selber, ›habe ich den Spanier gespielt, der schlecht Französisch spricht, sich auf seinen Gesandten beruft, diplomatische Vorrechte geltend macht und nicht versteht, was man ihn fragt; all das wohl unterbrochen von Schwächeanfällen, Pausen und Seufzern, kurz von allen Schnurren eines Sterbenden. Bleiben wir auf diesem Gebiet! Weine Papiere sind in Ordnung. Asien und ich, wir werden schon mit Herrn Camusot fertig werden! Er ist nicht allzu stark. Denken wir also an Lucien; es handelt sich darum, ihm Mut zu machen; wir müssen auf jeden Fall zu diesem Kind durchdringen und ihm einen Feldzugsplan vorschreiben; sonst liefert er sich und mich aus und verdirbt alles! ... Vor seinem Verhör muß man ihm das eingetrichtert haben. Dazu brauche ich Zeugen, die mir meinen Priesterstand bestätigen!‹
Das war die moralische und physische Verfassung der beiden Gefangenen, deren Schicksal in diesem Augenblick von Herrn Camusot abhing, dem Untersuchungsrichter der ersten Instanz im Seinedepartement; er war während der Zeit, die der Strafkodex ihm zuwies, der unumschränkte Richter über die kleinsten Einzelheiten in ihrem Dasein; denn er allein konnte erlauben, daß der Geistliche und der Arzt der Conciergerie, oder wer es auch war, mit ihnen in Verbindung trat.
Keine menschliche Macht, weder der König noch der Justizminister noch der Ministerpräsident, kann in die Befugnisse eines Untersuchungsrichters eingreifen; nichts kann ihn aufhalten, nichts ihm Vorschriften machen. Er ist ein Souverän, der einzig seinem Gewissen und dem Gesetz untersteht. In diesem Augenblick, in dem Philosophen, Philanthropen und Publizisten unablässig damit beschäftigt sind, alle sozialen Gewalten zu brechen, ist auch die Macht, die unsere Gesetze den Untersuchungsrichtern geben, zum Gegenstand von Angriffen geworden, die um so furchtbarer sind, als diese Macht sie fast rechtfertigt, weil sie, sagen wir es, ungeheuer ist. Nichtsdestoweniger muß für jeden verständigen Menschen diese Macht unangefochten bleiben; man kann in gewissen Fällen die Ausübung durch weitgehende Vorsicht mildern; aber die Gesellschaft, die schon durch die Verständnislosigkeit und Schwäche der Jury – einer erhabenen und höchsten Einrichtung, in der die Ämter nur ausgewählten Notabilitäten
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