Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Titel: Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
Vom Netzwerk:
›Manlius‹, den er nie gesehen hatte.
    Dem Dichter fiel ein Papier auf die Knie und entriß ihn der ekstatischen Verwunderung, in die ihn diese beängstigende Antwort gestürzt hatte; er nahm es und las den ersten je von Fräulein Esther geschriebenen Brief:
    »An Herrn Abbé Carlos Herrera.

 
    Mein teurer Gönner! Werden Sie nicht glauben, daß bei mir die Dankbarkeit den Vortritt vor der Liebe hat, wenn Sie sehen, daß ich die Fähigkeit, meine Gedanken schriftlich auszudrücken, zuerst dazu benutze, Ihnen zu danken, statt eine Liebe zu schildern, die Lucien vielleicht vergessen hat? Aber ich werde Ihnen sagen, göttlicher Mann, was ich ihm zu sagen nicht wagen würde, obwohl er zu meinem Glück noch im Dasein steht. Die gestrige Zeremonie hat Schätze der Gnade in mein Inneres gegossen, und also lege ich mein Schicksal in Ihre Hand. Müßte ich sterben, indem ich meinem Geliebten fernbleibe, so werde ich gereinigt sterben wie Magdalena, und meine Seele wird für ihn die Nebenbuhlerin seines Schutzengels werden. Werde ich je das gestrige Fest vergessen? Wie sollte ich dem glorreichen Thron entsagen, auf den ich gestiegen bin? Gestern habe ich all meine Besudelungen im Wasser der Taufe abgewaschen, und ich habe den heiligen Leib unseres Heilandes empfangen; ich bin zu einem seiner Tabernakel geworden. In jenem Augenblick habe ich den Gesang der Engel gehört, ich war mehr als eine Frau, ich wurde einem Leben des Lichts geboren, mitten unter den Zurufen des Irdischen, von der Welt bewundert, in einem Gewölk des Weihrauchs und der Gebete, das berauschte, geschmückt wie eine Jungfrau für einen himmlischen Gatten. Als ich mich, was ich niemals hoffen konnte, Luciens würdig fand, habe ich jede unreine Liebe abgeschworen, und ich will nicht mehr auf andern Wegen als denen der Tugend wandeln. Wenn mein Leib schwächer ist als meine Seele, so möge er zugrunde gehen! Seien Sie Richter über mein Schicksal, und wenn ich sterbe, so sagen Sie Lucien, daß ich für ihn gestorben bin, indem ich für Gott geboren wurde. Sonntag abend.«
    Lucien hob seine tränenfeuchten Augen.
    »Du kennst die Wohnung der dicken Caroline Bellefeuille, in der Rue Taitbout,« fuhr der Spanier fort. »Dieses Mädchen war, als sie von ihrem Richter verlassen wurde, in furchtbarer Not, sie sollte gepfändet werden; ich habe ihre Wohnung in Bausch und Bogen kaufen lassen, sie ist mit ihren Sachen ausgezogen. Esther, dieser Engel, der zum Himmel steigen wollte, ist dort niedergestiegen und wartet auf dich.«
    In diesem Augenblick hörte Lucien im Hof seine stampfenden Pferde; er besaß nicht die Kraft, seine Bewunderung für eine Ergebenheit auszusprechen, die nur er zu würdigen wußte: er warf sich dem Menschen, den er beschimpft hatte, in die Arme und machte alles durch einen einzigen Blick und seine überströmende Empfindung wieder gut; dann eilte er die Treppe hinunter, warf seinem Groom Esthers Adresse ins Ohr, und die Pferde flogen davon, als belebte die Leidenschaft ihres Herrn ihre Beine.
    Am folgenden Tage ging ein Mann, den die Vorübergehenden nach seinem Äußern für einen verkleideten Gendarmen hätten halten können, in der Rue Taitbout einem Hause gegenüber auf und ab, als wartete er, daß jemand herauskäme; sein Schritt verriet Erregung. Man kann in Paris oft solche leidenschaftliche Spaziergänger treffen: echte Gendarmen, die einen widerspenstigen Nationalgardisten belauern, Gerichtsdiener, die ihre Maßnahmen für eine Verhaftung treffen, Gläubiger, die darauf sinnen, ihren Schuldnern einen Schimpf anzutun, wenn sie sich eingeschlossen halten, eifersüchtige und argwöhnische Liebhaber oder Ehemänner, oder schließlich Freunde, die für Freunde Posten stehen; aber recht selten wird man einem Gesicht begegnen, das von den wilden, rauhen Gedanken entflammt ist, wie sie das Gesicht des düstern Athleten belebten, der unter den Fenstern Fräulein Esthers mit der gedankenverlorenen Eile eines Bären im Käfig hin und her ging. Gegen Mittag tat sich ein Fenster auf, aus dem die Hand einer Kammerfrau zum Vorschein kam, die die mit einer Polsterfütterung versehenen Läden aufstieß. Ein paar Augenblicke darauf trat Esther im Negligé vor, um frische Luft zu schöpfen; sie stützte sich auf Lucien. Wer sie gesehen hätte, hätte sie für das Original einer anmutigen englischen Vignette gehalten. Esther bemerkte sofort die Basiliskenaugen des spanischen Priesters, und wie von einer Kugel getroffen, stieß das arme Geschöpf

Weitere Kostenlose Bücher