Glanz
Finger auf meine Lippen und schüttelte den Kopf.
Tränen traten in die Augen der Alten. »Nimm mich mit!«, bat sie. »Bitte, nimm mich mit in den Himmel!«
»Später«, flüsterte ich. »Ich komme bald zurück, doch erst muss ich noch einen Auftrag erledigen.«
Die Frau lächelte voller Sehnsucht. Ich fühlte mich schuldig, als ich die Zimmertür öffnete und auf den Korridor hinausspähte. Er war dunkel und leer. Aus einer halb geöffneten Tür fiel grelles Licht. Wahrscheinlich ein Aufenthaltsraum für die Nachtschwester.
Ich trat hinaus auf den Gang, schloss leise die Tür hinter mir und versuchte, lautlos in Richtung des Treppenhauses zu gehen. In diesem Moment hörte ich ein Summen, das aus dem erleuchteten Zimmer kam. Wahrscheinlich hatte jemand auf den Rufknopf an seinem Bett gedrückt.
Rasch stellte ich mich in einen Türrahmen auf der gegenüberliegenden Seite des Gangs und betete, dass die Nachtschwester nicht an mir vorbeimusste.
Sie näherte sich mit schnellen Schritten dem Zimmer, das ich gerade eben verlassen hatte, trat ein und knipste das Licht an. »Was ist denn nun schon wieder, Mrs. Kelley?«
»Er ist hier«, hörte ich die alte Dame sagen. »Der Engel ist hier! Heute Nacht nimmt er mich mit, das hat er versprochen!«
|366| Ich wartete den weiteren Dialog nicht ab, sondern eilte so leise wie möglich zur Treppe.
Ich erreichte das Obergeschoss ohne weiteren Zwischenfall. Hier schien es keine eigene Nachtschwester zu geben, jedenfalls war der Korridor dunkel. Nur ein grünes Notausgangsschild warf ein fahles Licht.
Am Ende des Flurs lag Zimmer 212. Ich sah die metallenen Ziffern im grünen Licht schimmern. Sie schienen mich zu locken, doch gleichzeitig bekam ich Angst. War mein Eindringen in diese Klinik nicht viel zu einfach gewesen?
Das ist eine Falle!, schrie ein Teil meines Bewusstseins. Verschwinde von hier, solange du noch kannst!
Nein. Erst musste ich Gewissheit haben.
Kalter Schweiß brach aus meinen Poren. Mir wurde schwindlig. Wie in einem dieser seltsamen Träume hatte ich plötzlich das Gefühl, dass der Korridor immer länger wurde und ich mich mit jedem Schritt, den ich auf die Tür zuging, weiter davon entfernte.
Nach einem Moment merkte ich, dass ich an der Wand lehnte und noch keinen einzigen Schritt getan hatte.
Reiß dich zusammen, ermahnte ich mich selbst. Du bist nicht so weit gekommen, um ausgerechnet jetzt schlappzumachen!
Ich atmete ein paar Mal tief ein und aus, dann ging ich mit zögernden, unsicheren Schritten den Korridor entlang. Als meine Hand die kalte Klinke berührte, durchzuckte mich noch einmal ein Anfall von Paranoia. Ich schloss die Augen und drückte den Türgriff so sanft wie möglich herab. Ein knirschendes Geräusch ertönte. Ich sah mich erschrocken um, doch niemand schien es gehört zu haben.
Ich schob die Tür auf und trat ein.
Fahles Mondlicht fiel durch die dünnen Vorhänge. Die |367| Apparate neben dem Bett waren verschwunden. Eric lag mit entspanntem Gesicht und geschlossenen Augen da.
Ein Seufzer der Erleichterung entfuhr mir. Ich ging zu ihm und berührte seine Wange. »Eric!«, flüsterte ich. »Wach auf, mein Sohn!«
Keine Reaktion.
Ich schluckte die Angst und Beklemmung herunter, die mich plötzlich befielen. Ich rüttelte ihn heftig, gab ihm einen Klaps auf die Wange. Doch was ich auch tat, ich konnte ihn nicht aufwecken.
War er etwa wieder ins Wachkoma gefallen? Was für eine entsetzliche Vorstellung! Aber vielleicht hatte ihm Dr. Ignacius auch nur ein starkes Schlafmittel gegeben. Dafür sprach jedenfalls, dass die Überwachungsapparate und der Schlauch aus seiner Nase verschwunden waren.
Ich klammerte mich an diesen Gedanken wie eine Ertrinkende an ein Stück Treibholz. Doch selbst wenn Eric bald von selbst wieder aufwachen würde, hatte ich ein Problem: Ich musste ihn irgendwie aus der Klinik schaffen. Ich hatte gehofft, dass er selbst würde gehen können, wenn ich ihn stützte. Ich war kaum in der Lage, ihn bis zum Seeufer zu tragen, schon gar nicht so, dass ich dabei nicht gesehen wurde. Sein Bett hatte Rollen, doch es war ungeeignet, über den unebenen Weg im kleinen Park geschoben zu werden.
Mir fiel ein, dass ich neulich im Park Patienten in Rollstühlen gesehen hatte. Ich ging auf den Flur und öffnete leise die Türen der angrenzenden Zimmer. Beim vierten Versuch hatte ich Glück: Im Zimmer eines älteren Mannes stand ein Rollstuhl. Ich schob ihn zu Erics Bett und hievte meinen Sohn hinein.
In diesem Moment
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