Glanz
einem Moment lief er rot an. Er zuckte und strampelte, dann wurde sein Körper schlaff.
Erschrocken ließ ich ihn los. Ich wollte ihn doch nicht umbringen!
|371| Der Körper des Arztes sackte leblos zu Boden. Mein Blick fiel auf den Gegenstand, der herabgefallen war. Ich hatte mich getäuscht: Es war keine Spritze, sondern einer dieser Piepser, mit denen Ärzte in Notfällen herbeigerufen wurden. Möglicherweise hatte er versucht, Hilfe zu holen.
Ich hielt mich nicht damit auf zu überpüfen, ob er noch lebte. Da er den Ausgang versperrte, zerrte ich ihn zur Seite. Dann öffnete ich die Tür, schob Eric auf den Flur und schloss sie wieder.
Wenn jemand den Lärm unserer Auseinandersetzung gehört hatte, war davon nichts zu erkennen. Rasch schob ich den Rollstuhl durch den Flur. Mir blieb nichts anderes übrig, als den Fahrstuhl zu nehmen.
Es dauerte ewig, bis sich endlich mit einem fürchterlich lauten elektronischen Glockenton die Tür öffnete. Ich schob Eric hinein, drückte den Knopf für das Erdgeschoss und schickte Stoßgebete zum Himmel, während sich der Fahrstuhl langsam senkte. Mein Körper versteifte sich, als sich die Tür öffnete. Ich war darauf gefasst, eine ganze Gruppe von kräftigen Männern in weißen Kitteln zu sehen, die draußen auf mich lauerten. Doch der Flur war dunkel und leer.
Ich schob Eric zu der Tür, die in den Garten führte. Der Schlüssel steckte von innen. Ohne aufgehalten zu werden, gelangte ich hinaus.
Ich konnte mein Glück kaum fassen. So rasch es ging, schob ich den Rollstuhl über den Kiesweg bis zum Seeufer. Mein Schlauchboot lag noch dort, wo ich es vertäut hatte. Ich hievte den tief schlafenden Eric hinein, die ganze Zeit damit rechnend, dass hinter mir Scheinwerfer aufflammen und laute Rufe erklingen würden. Doch es ging nicht einmal das Licht in einem der Klinikfenster an. |372| Endlich gelang es mir, das Boot mit meinem Sohn loszumachen. In diesem Moment senkte sich ein Schatten über mich. Ich blickte nach oben und sah einen großen Vogelschwarm, der über dem Klinikgelände kreiste und für einen Moment den Mond verdunkelte. Unfähig, mich zu rühren, starrte ich den Tieren nach, die über den See hinausflogen und endlich am dunklen Horizont verschwanden.
Ich ruderte los, so schnell ich konnte. Meine Arme zitterten vor Anstrengung.
Als ich am Ufer des kleinen Parks anlegte, war aus der Klinik immer noch kein Alarmzeichen zu hören. Ich begann, mir Sorgen um Dr. Ignacius zu machen. Hoffentlich hatte ich ihn nicht getötet! Aber für Reue war es zu spät.
Der schwierigste Teil war es, Eric zu meinem Auto zu befördern. Da ich den Rollstuhl nicht hatte mitnehmen können, musste ich ihn unter die Achseln fassen und wie eine Leiche durch den Park zerren. Wenn mich jetzt jemand sah … Doch ich begegnete niemandem.
Als ich meinen Sohn endlich auf den Rücksitz meines Autos gewuchtet hatte und immer noch niemand unsere Flucht behinderte, weinte ich vor Erleichterung.
Das Navigationssystem des Mietwagens führte mich durch die um diese Zeit fast leeren Straßen hinaus aus der Stadt. Als ich auf der Interstate 90 Richtung Südwesten fuhr, kamen die Zweifel wieder. Tat ich das Richtige? Oder hatte Ignacius recht, und ich litt an paranoiden Wahnvorstellungen?
Andererseits: War es nicht viel zu einfach gewesen, Eric aus der Klinik zu entführen? Wenn Ricarda Hellers Theorie stimmte und Dr. Ignacius für das Militär arbeitete, wenn es sein Ziel gewesen war, Eric aus dem Weg zu räumen, wieso war es mir dann ohne große Probleme gelungen, |373| auf das Gelände zu dringen? Wieso hatte ich ihn einfach so überwältigen können?
Schweiß brach mir aus allen Poren. Ich hielt am Straßenrand und versuchte erneut, Emily anzurufen. Sie erschien mir mit ihrer ruhigen, besonnenen Art die Einzige, die mich von meinen Zweifeln befreien und mir helfen konnte, einen klaren Kopf zu bekommen. Doch wieder erreichte ich nur den Anrufbeantworter.
Wenn ich an Verfolgungswahn litt und Dr. Ignacius ein harmloser, rechtschaffener Arzt war, wieso war dann Emily wie vom Erdboden verschluckt?
Ein ungeheurer Verdacht keimte in mir auf. Was, wenn ich genau das getan hatte, was diese Leute von mir wollten? Wenn sie von Anfang an geplant hatten, dass ich in die Klinik eindringen und Eric entführen würde? Im Nachhinein betrachtet waren meine Aktionen doch so vorhersehbar wie der Wetterbericht für das Death Valley: Es war klar gewesen, dass ich so schnell wie möglich nach Cambridge fahren
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