Glanz
außerhalb der Schulzeit nie einen Fuß vor die Tür setzte? Es war wohl höchste Zeit, einen Psychologen zu konsultieren.
»Eric!« Ich rüttelte an seiner Schulter. »Eric, wach auf! Es ist gleich halb acht!«
Er reagierte nicht.
Das war der Moment, als die Angst aus den tiefen Höhlen meines Bauches bis in meine Kehle aufstieg. Ich spürte meinen Herzschlag im Mund.
»Eric!« Ich rüttelte ihn erneut, ohne jede Reaktion. Ich fasste ihn an den Schultern und zog ihn zurück. Sein Kopf fiel in den Nacken, der Mund klappte auf. Seine Augen waren weit geöffnet. Das Licht der virtuellen Welt spiegelte sich auf ihrer glasigen Oberfläche.
Mir blieb das Herz stehen. »Eric! O Gott, Eric!«
Ich hatte gehört, dass bereits Computerspieler an Erschöpfung gestorben waren. Doch er konnte nicht tot sein! Nicht Eric! Nicht mein Sohn!
Meine Fingerspitzen berührten seine Halsschlagader. Fühlte ich dort tatsächlich einen schwachen Puls? Ich legte mein Ohr an seinen Mund und spürte einen leichten, regelmäßigen Hauch. Er lebte!
Erleichterung durchflutete mich und wurde gleich darauf von tiefer Sorge verdrängt. Ich rüttelte ihn erneut, gab ihm sogar Ohrfeigen, spritzte Wasser in sein Gesicht, bewirkte jedoch nicht die geringste Reaktion.
Schließlich rannte ich in die Küche, nahm das Telefon von der Station, lief zurück in sein Zimmer und wählte 911. Während ich Name und Adresse nannte und die Situation zu beschreiben versuchte, fiel mein Blick auf den Bildschirm des Laptops. Er zeigte eine von dornigen Sträuchern bewachsene Wildnis aus der Vogelperspektive. In der Mitte lag ein lebloser Körper in der glänzenden Bronzerüstung eines antiken Helden. Schwarze Vögel saßen auf der Leiche und pickten daran. Darunter hatte sich ein Eingabefenster mit drei Schaltflächen geöffnet: »Spielstand laden«, »Neustart« und »Beenden«.
Ekel erfüllte mich. Die Designer des Spiels, das Eric seit Monaten in seinen Bann zog – »Realm of Hades« hieß es, soweit ich mich erinnerte –, hatten es mit dem Realismus eindeutig übertrieben. Angewidert klappte ich den Laptop zu, griff den schlaffen Körper meines Sohnes unter den Achseln und zerrte ihn auf sein Bett. Er war überraschend schwer. Dabei schien es doch noch so nah, dass ich ihn das erste Mal in den Armen gehalten und seinen kleinen Mund an meiner Brust gespürt hatte. Auch so ein Effekt von Kindern: Sie rauben uns jedes realistische Gefühl für den Fluss der Zeit.
Ich rief mir den Erste-Hilfe-Kurs in Erinnerung und brachte Eric in die stabile Seitenlage, so gut ich konnte. Nun blieb mir nichts weiter übrig, als auf die Rettungskräfte zu warten.
Draußen erstrahlten die Glastürme der Stadt im Glanz der frühen Sonne. Ein Schwarm Vögel zeichnete sich dunkel gegen den klaren, kupferfarbenen Himmel ab, als hätten sie sich soeben von der Leiche des Computerspielhelden erhoben und wären irgendwie aus dem Laptop geflüchtet.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis es endlich an der Wohnungstür klingelte. Der Notarzt untersuchte Eric kurz, überprüfte Atmung und Puls, während ich ihm erklärte, wie ich meinen Sohn gefunden hatte.
»Was ist mit ihm, Doktor? Glauben Sie, es ist bloß Erschöpfung?«
»Das können wir erst sagen, wenn wir ihn genauer untersucht haben. Reagiert Ihr Sohn auf irgendwas allergisch?«
»Nein, eigentlich nicht. Ganz selten hat er Heuschnupfen. Birkenpollen, glaube ich.«
»Nimmt er Medikamente oder Drogen?«
Ich stockte. Bis zu diesem Moment war ich nie auf die Idee gekommen, dass Eric etwas mit Drogen zu tun haben könnte. Aber wenn es so war, hätte ich es wirklich gewusst? Ich hatte selbst ein paar Mal Gras geraucht, wie man das eben so tat zu meiner Zeit am College, aber das härtere Zeug nie angerührt. Andererseits waren heutzutage an den Schulen alle möglichen Pillen im Umlauf. Doch Eric trank nicht mal Alkohol und ging kaum aus dem Haus. Außerdem, woher hätte er das Geld für Drogen nehmen sollen?
»Nein«, antwortete ich. »Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.«
»Ist er Diabetiker? Hat er irgendeine andere chronische Krankheit? Oder hat er in letzter Zeit irgendwelche ungewöhnlichen Symptome gezeigt? Hatte er Kopfschmerzen, war er oft müde, oder war ihm übel?«
»Nein. Er ist eigentlich gesund. Bis auf …«
»Ja?«
»Na ja, er spielt sehr viel am Computer. Zu viel. Ich glaube, man kann da von einer Sucht sprechen.«
Der Notarzt nickte. Gemeinsam mit einem Rettungssanitäter hievte er meinen Jungen auf eine Trage
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