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Glanz

Glanz

Titel: Glanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Olsberg
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und schnallte ihn fest. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, zwei Diebe zu beobachten, die mir das Wertvollste raubten, das ich besaß.
    »Möchten Sie mitkommen?«
    Ich nickte und folgte den beiden zum Krankenwagen. Es waren nur etwa ein Dutzend Blocks von unserer Wohnung am Rande des Tompkins Square Park im Südosten Manhattans bis zum Faith Jordan Medical Center. Ich erledigte die Formalitäten am Empfang, während man Eric auf die Intensivstation brachte.
    Ich blieb den ganzen Tag im Krankenhaus, ohne dass ich mehr über seinen Zustand erfuhr. Verschiedene Ärzte untersuchten ihn und stellten mir alle dieselben Fragen – ob es ähnliche Fälle in der Familie gäbe, ob Eric bereits einmal in Ohnmacht gefallen sei oder epileptische Anfälle gehabt habe, ob er jemals allergisch auf Nahrungsmittel reagiert habe. Ich konnte nur verneinen. Auf meine Nachfragen aber antworteten sie ausweichend. Er leide an einem Apallischen Syndrom, auch Wachkoma genannt, möglicherweise ausgelöst durch einen toxischen Schock. Genaueres könne man noch nicht sagen. Sein Zustand sei immerhin stabil; man könne nicht viel mehr tun als abwarten. Es sei hilfreich, wenn ich bei ihm bliebe und mit ihm redete.
    Ich saß an seinem Bett und hielt seine Hand, während die Maschine, die ihn überwachte, gleichmäßig piepte. Er hatte jetzt die Augen geschlossen und schien friedlich zu schlafen. Doch vor meinem inneren Auge stand das unbarmherzige Bild des gefallenen Helden aus dem Computerspiel, von Aasvögeln bedeckt. Sosehr ich es auch versuchte, ich konnte es nicht verdrängen.
    Das Schlimmste in so einer Situation ist die eigene Hilflosigkeit. Der Körper spürt die Gefahr und pumpt Adrenalin durch die Blutbahn. Die Muskeln sind angespannt, je nach Bedarf flucht- oder kampfbereit. Doch in einem mit Elektronik vollgestopften Krankenhaus sind diese archaischen Impulse so nutzlos wie eine elektrische Heizdecke am Nordpol.
    Mein Kind war in Gefahr. Jemand – etwas – hatte es verletzt. Doch ich konnte nichts tun.
    Ich war nie besonders geduldig. Deshalb arbeite ich normalerweise allein oder nur mit wenigen Leuten, auf die ich mich verlassen kann. Ich bin Fotografin in der Modebranche. Mein Job ist es, das Schöne zu zeigen, und zwar so, wie es in der Realität so gut wie nie vorkommt – makellos, perfekt. Als ich jetzt Eric so liegen sah, seine Gesichtszüge völlig entspannt, hatte ich das Gefühl, zum ersten Mal diese Perfektion zu sehen, ohne dass ich mit Schminke, Kunstlicht und Objektivfiltern nachhelfen musste.
    Ich strich sanft über seine Wange. »Wo bist du?«, fragte ich ihn. »Komm bitte zu mir zurück!«
    »Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?«
    Ein Mädchen in der Kleidung einer Pflegerin war eingetreten. Sie schien höchstens zwei oder drei Jahre älter als Eric zu sein, und ich ertappte mich dabei, dass ich mich fragte, ob sie ihrer Aufgabe gewachsen war. Doch in ihren ungewöhnlich großen, dunkelbraunen Augen glaubte ich etwas zu erkennen, das mich anrührte: einen Schmerz, der meinen eigenen zu spiegeln schien, so als verstünde sie wirklich, wie ich mich fühlte. Ich schüttelte den Kopf.
    »Mein Name ist Maria. Ich arbeite in der neurologischen Abteilung. Ihr Sohn wird auf unsere Station verlegt, sobald … klar ist, dass sein Zustand stabil bleibt.«
    Ich rang mir ein Lächeln ab. »Vielen Dank, Maria.«
    Sie war gerade gegangen, als ein grauhaariger Arzt das Zimmer betrat. Er ging leicht vornübergebeugt, als könne er die Last des Leids seiner Patienten kaum noch ertragen. Er stellte sich als Dr. Kaufman vor, Leiter der neurologischen Abteilung. »Leiden Sie gelegentlich unter Depressionen?«, fragte er. »Haben Sie jemals Medikamente gegen Stimmungsschwankungen verschrieben bekommen?«
    »Ich? Nein, wie kommen Sie darauf?«
    »Wir haben das Blut Ihres Sohnes untersucht und Spuren einer Substanz gefunden: Glanotrizyklin.«
    Ich sah ihn verständnislos an.
    »Glanotrizyklin ist ein starkes Antidepressivum. In der Szene wird es auch 'Glanz' genannt.«
    »Szene? Was für eine Szene?«
    »Drogen. Medikamentenmissbrauch. Glanotrizyklin wird eine bewusstseinsverändernde Wirkung zugeschrieben. Es hebt die Stimmung und verstärkt die Wahrnehmung. In letzter Zeit ist von einigen Fällen berichtet worden, bei denen Computerspieler versucht haben, die Intensität des Spielerlebnisses damit zu erhöhen. Sieht so aus, als hätte Ihr Sohn eine Überdosis davon eingenommen.«
    Schwer zu beschreiben, was ich in diesem Moment

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