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Glanz

Glanz

Titel: Glanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Olsberg
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Gehirnaktivitäten sehr genau untersuchen. Ich wartete auf dem Flur.
    Nach etwa zwei Stunden kam Dr. Ignacius zu mir. Seine Mundwinkel waren herabgezogen und seine Stirn war zerfurcht, aber ich wusste nicht, ob das bei ihm etwas zu bedeuten hatte oder ob es sich um einen permanenten Zustand seiner Gesichtsmuskeln handelte. »Ich kann Ihnen leider nicht mehr sagen, als dass der Zustand Ihres Sohnes stabil ist«, sagte er. »Wir haben keine Hirnschädigungen festgestellt. Die Durchblutung scheint normal zu sein.«
    »Können Sie ihn denn nicht irgendwie aufwecken?«
    »Nein, leider nicht. Aber machen Sie sich keine Sorgen, er wird sicher von selbst zu sich kommen.«
    »Aber wann? Wie lange kann denn so ein Koma dauern?«
    »Wenn wir Glück haben, ein paar Tage. Aber es gibt auch Fälle von Patienten, die monatelang oder sogar mehrere Jahre in diesem Zustand waren. Reden Sie mit ihm, geben Sie ihm Zuwendung und Liebe. Gut möglich, dass er mehr von seiner Umwelt wahrnimmt, als wir erkennen können.«
    Hin und her gerissen zwischen Hoffnung und Verzweiflung fuhr ich nach Hause. Dr. Ignacius' Worte hatten mir Mut gemacht, doch gleichzeitig war da diese bleierne Gewissheit in meinem Magen, dass Eric nie wieder zu mir zurückkehren würde.
    Zu Hause ging ich noch einmal in sein Zimmer und sah mich um. Ich weiß nicht mehr, was ich zu finden hoffte – vielleicht Hinweise darauf, woher er die Drogen hatte, oder irgendeine Erklärung dafür, wie er in diese Abhängigkeit gerutscht war, warum er schließlich eine Überdosis genommen hatte.
    Der Raum war ein Zeugnis des stummen Ringens zwischen dem verspielten Kind, das immer noch irgendwo tief in Eric steckte, und seinem Streben, erwachsen zu werden. Zerknitterte Kleidung lag herum, die ich mühevoll gewaschen und gebügelt hatte und die nach nur einmal Tragen achtlos auf den Boden geworfen worden war. An den Wänden hingen Poster von Rockbands, und die E-Gitarre in einer Ecke kündete von Erics naivem Traum von Ruhm und Reichtum. Doch auf den bunten Regalen standen immer noch Kinderbücher von Dr. Seuss, Roald Dahl und Astrid Lindgren. Action-Figuren, die noch vor nicht allzu langer Zeit verbissen miteinander gerungen hatten, setzten allmählich Staub an. Eine vergessene Kiste mit Bauklötzen kündete von der Zeit, als Eric, versunken in seine eigene Phantasiewelt, stundenlang still dagesessen und erstaunliche Türme und Gebäude errichtet hatte. Das schien Ewigkeiten her und doch erst gestern gewesen zu sein.
    Ich setzte mich auf das Bett, dessen Wäsche mit Manga-Figurenbedruckt war. Halb unter der Decke verborgen lag ein Kuschelhase, als schäme er sich ein wenig dafür, hier zu sein. Eric hatte ihn von meiner Mutter zur Geburt geschenkt bekommen; es war immer sein wertvollster Besitz gewesen, und er hatte ihn überallhin mitgeschleppt. Der Plüsch war an einigen Stellen ausgefallen, und das linke Ohr hing nur noch an einem dünnen Faden. Ich drückte den Hasen an mich und sank aufs Kopfkissen. Erics Duft stieg mir in die Nase, und die Sehnsucht nach ihm überwältigte mich.
    Endlich flossen die Tränen.

     
    Ich weiß nicht, wie ich die folgenden Wochen durchstand. Ich schlief wenig, aß fast nichts, verbrachte jede Minute im Krankenhaus. Man hatte Eric nach ein paar Tagen aus der Intensivstation in die neurologische Abteilung verlegt. Er teilte jetzt das Zimmer mit zwei alten Männern, die im Sterben lagen. Ein Schlauch führte durch seine Nase bis in seinen Magen. Mehrmals pro Tag wurden ihm auf diese Weise breiförmige Nahrung und Flüssigkeit zugeführt.
    Jeden Montag kam Dr. Ignacius in die Klinik und untersuchte ihn, doch seine Erklärungen blieben stets genauso vage und unverbindlich wie beim ersten Mal.
    Wachkomapatienten haben einen normalen Schlafrhythmus, wie mir Dr. Kaufman schon am ersten Tag erklärt hatte. Jeden Morgen, wenn er die Augen öffnete, hatte ich die Hoffnung, Eric könne mich erkennen oder wenigstens irgendetwas wahrnehmen, doch sein Blick blieb leer. Eines Morgens gab ich ihm in meiner Verzweiflung sogar eine Ohrfeige und brüllte ihn an. Natürlich bewirkte es nichts, und ich hatte danach tagelang ein schlechtes Gewissen.
    Dr. Kaufman empfahl mir, viel mit Eric zu sprechen. Neuere Studien hätten gezeigt, dass Wachkomapatienten mehr von ihrer Umwelt wahrnähmen, als man früher geglaubt habe, auch wenn sie nicht darauf reagieren könnten. Obwohl er damit bestätigte, was Dr. Ignacius gesagt hatte, befürchtete ich, dass er mich nur beruhigen

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