Glanz
Eric aus dem Weg zu räumen – wie könnte Eric das wissen?«
Ich überlegte einen Moment. »Auf jeden Fall ist es doch seltsam, dass ausgerechnet Dr. Ignacius Hades ist und nicht Dr. Kaufman oder einer der Pfleger aus dem Krankenhaus, die viel mehr Kontakt mit Eric hatten. Irgendwas muss ihn tief erschreckt haben. Vielleicht hat er etwas gehört. Vielleicht hat sich Ignacius in seiner Nähe mit jemandem unterhalten und gedacht, Eric bekäme davon nichts mit. Das wäre doch möglich, oder?«
»Ja, möglich wäre es. Aber es sind auch ganz andere Erklärungen denkbar.«
Wir schwiegen den Rest des Wegs, jeder in seine Gedanken versunken. Ich fragte mich, wie es bei unserem nächsten Besuch in Erics Traumwelt weitergehen würde. Die kalte Leere, durch die ich gefallen war, erschreckte mich ähnlich wie das schwarze Wasser des Styx, doch auch daraus war ich unversehrt aufgetaucht. Dennoch machte ich mir große Sorgen. Äußerlich hatte sich Erics Zustand nicht verändert, aber die Bilder in seinem Kopf schienen immer düsterer zu werden.
Nach einer Viertelstunde erreichten wir ein großes Holzhaus, hinter dem eine Scheune und ein Getreidesilo aufragten. Es lag am Rand eines kleinen Ortes, der nur aus zwei oder drei Dutzend Gebäuden bestand. Am Horizont ragten die sanften Rundungen bewaldeter Bergrücken auf.
»Willkommen in Steephill, Pennsylvania«, sagte Emily. »Meiner alten Heimat. Dies hier ist das Haus von Tante Jo. Jedenfalls haben wir sie früher so genannt. Eigentlich heißt sie Josefine Derringer und ist nicht mit mir verwandt. Sie ist Quäkerin und war immer so eine Mischung aus Lehrerin, Seelsorgerin, Hebamme, Krankenschwester und Lebensberaterin für die ganze Gegend. Inzwischen ist sie längst über achtzig, aber noch fit wie ein Turnschuh. Komm, ich stell sie dir vor.«
»Was ist mit Eric?«
»Den holen wir gleich. Keine Sorge, er ist hier in guten Händen, du wirst sehen. Nun komm erst mal mit.«
Ich stieg aus. Nach gut sieben Stunden Bewegungslosigkeit auf dem Rücksitz konnte ich kaum gehen. Auf wackligen Beinen folgte ich Emily und Maria zu den Stufen am Eingang des graugestrichenen Hauses. Ein breitschultriger Mann in den Fünfzigern öffnete uns die Tür. Er hatte ein grobschlächtiges Gesicht, aber ein warmherziges Lächeln. Nachdem er Emily umarmt hatte – er kannte sie offensichtlich schon seit ihrer Kindheit –, zerquetschte er mir mit seiner mächtigen Hand fast die Finger. »Willkommen in Steephill. Ich bin George Derringer. Tante Jo ist meine Mutter.«
»Anna Demmet. Danke, dass Sie uns helfen, Mr. Derringer.«
»George, bitte. Machen Sie sich keine Sorgen, wenn es jemanden auf diesem Planeten gibt, der sich gut um Ihren Jungen kümmert, dann ist es meine Mutter. Sie hat schon so manchen hoffnungslosen Fall wieder hingekriegt.« Er grinste, als ob er sich an einige besondere Begebenheiten erinnerte. »Aber kommen Sie doch erst mal rein!«
Er führte uns in eine geräumige Küche. An einem großen quadratischen Tisch saß eine Frau, die mit ihren roten Pausbäckchen und ihren freundlichen braunen Augen gut aus einer Fernsehwerbung für Bio-Lebensmittel vom Land hätte stammen können. Sie sprang auf. »Wenn das nicht meine kleine Emily ist!«, rief sie und umarmte meine Freundin lange. »Wo bist du die ganze Zeit gewesen, Kind? Dein letzter Besuch hier muss schon zwei oder drei Jahre her sein!«
»Ja, Tante Jo. Ich hatte viel zu tun.«
»Viel zu tun, soso. Das Leben in der Stadt macht einen schneller alt, habe ich dir das schon gesagt? Ehe du dich versiehst, bist du so grau wie ich, und dann ärgerst du dich, dass du nicht mehr Zeit hier verbracht hast, wo du zu Hause bist!« Doch es war kein Tadel in Tante Jos Stimme zu hören, nur die Freude des Wiedersehens.
»Ich bin ganz zufrieden in New York«, rechtfertigte sich Emily.
»Na, jetzt seid ihr ja jedenfalls hier.« Sie begrüßte Maria mit derselben Herzlichkeit. Dann wandte sie sich mir zu. »Sie sind also Anna. Emily hat mir erzählt, dass Sie Ihren Sohn aus dem Krankenhaus befreit haben. Richtig so! Die Ärzte glauben heutzutage viel zu oft, Gott ins Handwerk pfuschen zu müssen. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Ich habe nichts gegen Schulmedizin. Aber mit Maschinen kann man eben nicht alles heilen. George, Ronny, lasst uns den Jungen ins Haus holen.«
Tante Jos Sohn und einer ihrer vermutlich zahlreichen Enkel, ein kräftiger Bursche mit krausen nussbraunen Haaren, trugen Eric vorsichtig aus dem Auto und legten
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