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Glanz

Glanz

Titel: Glanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Olsberg
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– seine Matratze war ungewohnt hart. Merkwürdig war nur, dass ich statt des schwarzen Gewands ein seidenes Nachthemd trug. Ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern, mich umgezogen zu haben.
    Sei's drum. Ich fühlte mich jedenfalls ausgeruht wie schon lange nicht mehr. Ich streckte mich, schaltete den Wecker aus und stand auf. Wenn ich schon mal hier in diesem Phantasie-Apartment war, konnte ich auch die Phantasie-Dusche benutzen. Ich ging also ins Bad und genoss das warme Wasser auf meiner Haut. Danach zog ich etwas Bequemes an – Jeans, ein dunkelblaues T-Shirt und Turnschuhe. Ich sah mich um, konnte aber das schwarze Gewand nirgends entdecken. Vielleicht lag es noch in Erics Zimmer.
    Ich öffnete seine Tür und erstarrte. Ein leises, qualvolles Geräusch entrang sich meiner Kehle.
    Eric saß an seinem Schreibtisch, den Oberkörper über seinen eingeschalteten Laptop gebeugt, den Kopf mit den ungebändigten blonden Locken auf der Tischplatte. Ein Arm hing schlaff herab, die Hand des anderen umfasste die Maus. Nur das bräunliche Licht des Bildschirms erhellte den Raum. Er zeigte eine von dornigen Sträuchern bewachsene Wildnis aus der Vogelperspektive. In der Mitte lag ein lebloser Körper in der glänzenden Bronzerüstung eines antiken Helden. Schwarze Vögel saßen auf der Leiche und pickten daran. Darunter hatte sich ein Eingabefenster mit drei Schaltknöpfen geöffnet: »Spielstand laden«, »Neustart« und »Beenden«.
    Einen Moment stand ich da, reglos, und wartete darauf, dass sich das Bild irgendwie verändern, in Luft auflösen würde. Aber das tat es nicht.
    Zögernd näherte ich mich dem Schreibtisch, streckte eine Hand aus, berührte den reglosen Körper sanft an der Schulter. »Eric?«
    Keine Reaktion.
    Ich fasste die Schulter, rüttelte daran. »Eric! Wach auf, Eric! Bitte, wach auf!«
    Eine Bewegung lief durch seinen Körper. Er machte ein grunzendes Geräusch, dann schlug er die Augen auf. Er richtete sich auf und sah sich blinzelnd um. Die Tasten hatten sich in seine linke Gesichtshälfte eingeprägt und gaben ihr ein schachbrettartiges Muster. »Morgen, Ma. Muss wohl am Rechner eingeschlafen sein. Tut mir leid.«
    Ich stand nur da, fassungslos, unfähig zu begreifen, was ich sah.
    »Was ist los, Ma? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen!«
    Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Ich versuchte zu lächeln, aber es misslang. Tränen traten mir in die Augen. Ob aus Verzweiflung oder Erleichterung, wusste ich nicht.
    Eric stand auf und nahm mich in den Arm. »Ist ja gut, Ma. Ist ja gut. Es kommt nicht wieder vor, versprochen.«
    War es gut? War es wirklich gut? Er fühlte sich verdammt real an, wie er mir über den Rücken streichelte.
    Er löste sich von mir. »Komm, lass uns frühstücken.« Wir gingen in die Küche. Als er sah, dass ich nicht wie gewohnt gedeckt hatte, platzierte er Teller, Tassen und Besteck auf dem Tisch, holte Erdnussbutter, Marmelade und Milch aus dem Kühlschrank und steckte zwei Scheiben in den Toaster. Er machte mir sogar unaufgefordert einen Kaffee.
    Ich stand die ganze Zeit daneben und wusste nicht, was ich denken sollte. Erics Koma, das Krankenhaus, Emily, diese verrückte Phantasiewelt – hatte ich all das nur geträumt? War das hier – mein Sohn am Frühstückstisch, der duftende Kaffee – die Realität?
    Nach allem, was ich erlebt hatte – oder glaubte, erlebt zu haben –, traute ich dem Schein nicht. Nein, das hier war einfach zu schön, um wahr zu sein.
    Wie normal war mir doch dieses Leben vorgekommen, damals, bevor es geschehen war. Ich hatte nicht begriffen, wie glücklich ich gewesen war.
    Ich setzte mich an den Küchentisch, vorsichtig, so als könnte ihn eine unbedachte Bewegung zerplatzen lassen wie eine Seifenblase. Ich zwang mich, meinen Kaffee zu trinken – er war so heiß, dass ich mir Lippen und Zunge verbrühte – und ein Toast zu essen. Die Erdnussbutter schmeckte pappig wie immer. Ich kaute lustlos.
    Eric stellte sein Geschirr in die Spüle, putzte sich die Zähne und strich pro forma ein paar Mal mit dem Kamm über seine Locken, ohne damit viel auszurichten. Dann packte er die Schulsachen in seine Tasche und öffnete die Wohnungstür. »Tschüs, Ma. Bis heute Nachmittag!«
    Ich wollte ihn aufhalten, ihn auf keinen Fall gehen lassen. Aber ich wusste nicht, was ich hätte sagen sollen. Also gab ich ihm nur einen Abschiedskuss und sah mit klopfendem Herzen zu, wie er die Treppe hinunterging.
    Ich hatte

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