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Glanz

Glanz

Titel: Glanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Olsberg
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Schritte vor dem Schädel blieben sie stehen, als trauten sie sich nicht näher heran.
    Der Totenkopf musste mindestens fünfzig Meter hoch sein. Der Unterkiefer, der heruntergeklappt und halb vergraben im Sand lag, formte eine fünf Meter hohe Mauer. Die Zähne ragten auf wie Turmzinnen, jeder von ihnen zwei Meter breit und ebenso hoch. Einige fehlten. Mit Erics Hilfe konnte ich zu einer der Zahnlücken emporklettern. Über mir ragte der Schädel auf wie das Maul eines Ungeheuers, das nur darauf wartete, mich zu verschlingen. Die Höhlung unter dem Oberkiefer war mit großen grauen Steinblöcken zugemauert. Zwei riesige Kriegerstatuen bewachten einen schmalen, dunklen Eingang.
    Ich beugte mich hinab und streckte meine Hand aus, um Eric heraufzuhelfen. »Komm!«
    Er schüttelte den Kopf. »Nein. Die Erste Mutter sagte, du musst dort allein hineingehen!«
    »Ich pfeif drauf, was die Erste Mutter sagt«, rief ich. »Wer weiß, was da drin für Gefahren lauern. Ich brauche deine Hilfe!« In Wahrheit hatte ich keine Angst vor dem, was im Innern des Schädels auf mich wartete. Ich hatte Angst davor, Eric auch nur für eine Minute aus den Augen zu lassen. Der Schock, in dieser Welt aufzuwachen, ohne dass er bei mir war, saß mir noch in den Knochen.
    Er sah mich mit traurigen Augen an. »Ich kann dort nicht hinein«, beharrte er. »Das ist ein Ort, den nur Götter betreten dürfen!«
    »Ich bin keine Göttin, verdammt noch mal! Hast du das immer noch nicht begriffen?«
    Er schwieg nur. Sosehr ich auch versuchte, ihn zu überzeugen, |132| er weigerte sich. Schließlich sah ich ein, dass ich nur wertvolle Zeit verlor. Entweder ich ging ohne ihn, oder ich ließ es bleiben und suchte nach einem anderen Weg zum Tor des Lichts.
    Ich verstand nicht viel von Computerspielen, aber ich ahnte, dass die Gamedesigner in einem solchen Fall dafür sorgten, dass sich die Spieler ihrem Willen beugten und den geplanten Lösungsweg beschritten. Wenn ich mich weigerte, den Tempel zu betreten, würde ich vermutlich bald auf unüberwindliche Hindernisse stoßen und so lange herumirren, bis ich einsah, dass es keinen anderen Weg gab.
    Ich seufzte. »Also schön. Warte hier. Geh nicht weg, egal, was geschieht, ja?«
    Er nickte. »Ja, göttliche Mutter. Viel Glück!«
    Ich sprang vom Unterkiefer in den weichen Sand und trat zwischen den Sockeln der gigantischen Statuen hindurch. Es gab keine Tür, nur einen etwa zwei Meter hohen und ebenso breiten Gang, der ins Innere führte. In die Wände waren eckige Schriftzeichen gehauen, doch es war keine Schrift, die ich kannte. Ich konnte nur wenige Schritte weit sehen, bevor sich der Weg in Dunkelheit verlor. Ohne eine Lichtquelle würde ich nicht weit kommen.
    Ich erblickte ein graues Bündel, das ein paar Schritte vom Eingang entfernt auf dem Boden lag. Es handelte sich um einen Stoffbeutel. Darin befanden sich eine Wasserflasche aus Leder, ein Stück Brot und eine kupferne Öllampe sowie Feuerstein, Stahl und Zunder. Wie praktisch! Die Designer dieses absurden Spiels hatten wirklich an alles gedacht.
    Einem verrückten Impuls folgend, rieb ich an der Lampe. Nichts geschah. Aladins Dschinn war wohl für ein anderes Spiel vorbehalten.
    |133| Es dauerte einen Moment, bis ich die Lampe mit den altertümlichen Hilfsmitteln entzündet hatte. Ihr flackerndes gelbliches Licht ließ die Schriftzeichen tanzen, als führten sie ein unheimliches Eigenleben.
    Ich hatte plötzlich Hunger und Durst. Vielleicht lag es daran, dass ich mein Frühstück nicht bei mir behalten hatte. Auch in Erics Traumwelt war es schon eine ganze Weile her, dass ich etwas gegessen hatte. Ich trank ein paar Schlucke aus der Wasserflasche – das Wasser schmeckte etwas abgestanden, war aber genießbar – und aß etwas von dem harten, trockenen Brot. Als ich die Reste wieder in dem Beutel verstaute, entdeckte ich darin ein kleines Röllchen aus Pergament. Ich entrollte es und betrachtete einen kurzen Text aus griechischen Schriftzeichen. Ich wollte schon zurück zu Eric laufen und ihn bitten, das Ganze für mich zu übersetzen, als mir klar wurde, dass ich die Zeichen zwar nicht entziffern konnte, aber dennoch genau wusste, was dort stand: »Die Dinge sind nicht so, wie sie erscheinen.«
    Ich dachte nicht weiter über den seltsamen Umstand nach, dass ich eine Schrift gleichzeitig nicht lesen und doch verstehen konnte. Wenn Erics Unterbewusstsein wollte, dass ich die Warnung verstand, dann war es eben so. Und sicher war es kein Zufall, dass

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