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Glanz

Glanz

Titel: Glanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Olsberg
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das war eindeutig »unten«, so als |139| sei der ganze Raum um 90 Grad gekippt. Wahrscheinlicher war allerdings, dass in dieser Traumwelt die normalen physikalischen Gesetze nicht galten und die Schwerkraft ihre Richtung ändern konnte. Dafür sprach jedenfalls der Anblick der Öllampe, die vor mir an der senkrechten Wand hing, als sei sie dort festgeklebt. Die kleine Flamme flackerte nicht nach oben, wie es Flammen normalerweise tun, sondern waagerecht in den Raum.
    Ich griff nach der Lampe. Sie ließ sich ganz einfach von der Wand ablösen. Jetzt richtete sich die kleine Flamme wieder gehorsam zur Decke.
    Ich kam mir vor wie Isaac Newton, der gerade herausgefunden hatte, dass Äpfel manchmal vom Boden auf den Baum fallen.
    Trotz des Stolzes darüber, auch dieses Rätsel gelöst zu haben, hielt ich mich nicht lange mit Triumphgefühlen auf. Ich ging zu der niedrigen Öffnung, die zuvor an der Decke gewesen war und sich jetzt am Fuß der gegenüberliegenden Wand befand, während der Eingang, durch den ich den Raum betreten hatte, scheinbar unerreichbar an der hohen Decke lag.
    Die Öffnung war so niedrig, dass ich nur auf allen vieren hindurchkonnte. Dahinter erstreckte sich ein ebenso niedriger Gang. Mit klopfendem Herzen kroch ich voran.

|140| 16.
    Nach kurzer Zeit knickte der Gang senkrecht nach unten ab. Das schwache Licht der Öllampe reichte nicht bis zum Boden des Schachtes.
    Ich starrte in den düsteren Abgrund. Sollte ich es wagen, einfach kopfüber hinunterzuklettern, in der Hoffnung, dass das seltsame Schwerkraftgesetz auch hier galt? Wenn nicht, konnte meine Suche ein schnelles Ende nehmen. Andererseits, was blieb mir übrig? Sicherheitshalber konsultierte ich noch einmal das Pergament, doch der Sinn der Worte war unverändert.
    Ich hatte ein sehr mulmiges Gefühl, als ich mich über den Schachtrand beugte. Die Schwerkraft zog an meinem Oberkörper, wollte mich in die Tiefe reißen. Alles in mir drängte mich umzukehren, doch ich zwang mich Stück für Stück vorwärts. Schließlich schob ich den Schwerpunkt meines Körpers über die Kante, so dass ich nach vorn kippte. Das Schwindelgefühl überkam mich erneut, dann lag ich mit dem Oberkörper flach auf dem Boden, während meine Unterschenkel jetzt über einen steilen Schacht hinter mir hinausragten, der in die Tiefe führte.
    Ich atmete auf und folgte dem Gang, der sich immer tiefer ins Innere des riesigen Schädels wand. Nachdem ich mehrere Male rechts und links abgebogen war und zwei weitere Wechsel der Schwerkraftrichtung geschehen waren, hatte ich endgültig jede Orientierung verloren.
    Fast unmerklich veränderten sich die Wände des Gangs. Die Winkel, in denen sie aufeinandertrafen, wurden flacher, der Stein poröser und grober, bis der Gang schließlich |141| eher einem Schlauch glich, der durch nackte, schwarze Erde führte. Die Richtungsänderungen erfolgten jetzt allmählich, in sanften Rundungen, und waren deshalb schwerer nachzuvollziehen. Einmal stellte ich probehalber die Lampe auf den Boden und kroch ein Stück weiter. Als ich mich kurz darauf umdrehte, schien sie hinter mir verkehrt herum an der Decke zu hängen. Mir wurde übel. Ich kroch zurück, nahm die Lampe und beschloss, zukünftig auf solche Experimente zu verzichten.
    Nach einer Weile bemerkte ich eine Art grauen Schleim auf den Wänden, zunächst nur in vereinzelten Flecken, doch bald häufiger, in immer größeren Flächen. Das Zeug glänzte klebrig im Licht der Öllampe, doch als ich mich schließlich überwand und es vorsichtig berührte, fühlte es sich trocken und nachgiebig an wie die Haut eines toten Tieres.
    Nach einer Weile war der Gang so mit dem grauen Material überzogen, dass ich ihm nicht länger ausweichen konnte. Irgendwie erinnerte es mich an Gedärme. Doch wenn ich nicht umkehren wollte, blieb mir nichts anderes übrig, als darauf weiterzukriechen.
    In diesem Moment hörte ich zum ersten Mal ein leises Atmen.
    Ich hielt die Luft an, um sicherzugehen, dass mir nicht das Echo in dieser seltsamen Umgebung einen Streich spielte. Doch das Geräusch blieb, langsam und regelmäßig, wie von einem unsichtbaren Wesen, das mir folgte.
    Meine Nackenhaare stellten sich auf. Ich kroch weiter, so schnell ich konnte. Kurz darauf kam ich an eine Abzweigung. Ich lauschte. Das Atmen schien von überall her zu kommen – aus den beiden Gängen vor mir und auch von hinten.
    Ich entschied mich spontan für links. Bald erreichte ich |142| eine neue Weggabelung, wobei einer der

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