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Glanz

Glanz

Titel: Glanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Olsberg
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ich konnte niemanden entdecken. In der U-Bahn musterte ich die übrigen Fahrgäste misstrauisch. Ich wechselte zwei Mal abrupt die Linie und fuhr absichtlich einen Umweg. So dauerte es über eine Stunde, bis ich endlich Emilys Wohnung erreichte.
    »Bist du aufgehalten worden?«, fragte sie.
    »Ja.« Ich erzählte ihr von der Begegnung mit Dr. Ignacius.
    »Er scheint sich ja wirklich sehr für Erics Fall zu interessieren«, bemerkte Emily.
    »Er ist wohl Spezialist für Wachkomapatienten«, sagte ich. »Deshalb hat Dr. Kaufman ihn hinzugezogen.«
    »Mag sein. Trotzdem finde ich es ungewöhnlich, dass er jede Woche extra aus Boston nach New York kommt, um ihn zu untersuchen. Und dass er dich zu Hause besucht.«
    Ich zuckte mit den Schultern. Auch ich fand die aufdringlich-freundliche Art des Arztes vage beunruhigend. Doch das Thema war ja nun erledigt. »Wollen wir es wieder versuchen?«, fragte ich.
    Emily nickte. Wir nahmen jede eine Kapsel, warteten einen Moment, bis Emilys Wohnung in unserer Wahrnehmung heller und freundlicher wurde und schließlich in warmem Glanz erstrahlte. Dann legten wir uns neben Eric auf das Bett und schlossen den Kreis.

|129| 15.
    Ich stand nicht mehr in der Knochenhöhle, in der ich der Ersten Mutter begegnet war. Stattdessen lag ich im Sand. Über mir wölbten sich die gigantischen Rippenbögen in den Himmel. Eine große Menge von Affenwesen stand um mich herum, doch sie machten kein Geschrei, sondern musterten mich schweigend.
    Ich erschrak. »Eric?« Etwas Kaltes presste meine Brust zusammen. »Eric!«
    Die Affenwesen sahen mich nur stumm an.
    »Wo ist mein Sohn?«, schrie ich. »Was habt ihr mit ihm gemacht, verdammt noch mal?« Ich rappelte mich auf.
    Da die Affen mir nur bis zur Brust reichten, konnte ich über sie hinwegsehen. Mindestens tausend von ihnen waren hier am Fuß des Rippenbogens versammelt, in dem die Erste Mutter lebte. Eric stand nur ein Dutzend Schritte entfernt in der Menge. Für einen Augenblick dachte ich, die Affen griffen ihn an und versuchten, ihn zu Boden zu reißen. Doch dann sah ich, dass sie nur ihre Arme nach ihm ausstreckten, ihn berührten, als könnten sie kaum glauben, dass er real sei. Ein besonders vorwitziges Exemplar – es war sehr klein, ein Junges vermutlich – kletterte an seiner Rüstung empor und setzte sich auf seine Schulter, um seinen golden glänzenden Helm zu betasten.
    »Eric!«, rief ich voller Erleichterung.
    Er wandte sich zu mir um und winkte. Dann bahnte er sich langsam einen Weg durch die Menge.
    »Was ist passiert?«, fragte ich. »Wieso sind wir nicht mehr in der Halle der Ersten Mutter?«
    |130| Er sah mich merkwürdig an. »Du bist ohnmächtig geworden. Die Erste Mutter hat gesagt, die stickige Luft sei dir vielleicht nicht bekommen und wir sollten dich ins Freie bringen.«
    »Wie … wie lange ist das her?«
    »Nicht sehr lange. Wir haben dich gerade erst dorthingelegt. Entschuldige, dass ich nicht bei dir geblieben bin. Diese Wesen sind freundlich, aber auch sehr neugierig.« Während er das sagte, überwanden einige der Affenwesen ihre offensichtliche Scheu vor mir und berührten mein schwarzes Gewand. Eines der Wesen hob es an, um nachzuschauen, wie ich darunter aussah. Ein anderes reckte sich empor und zog an meinen Haaren.
    »Autsch!«, rief ich. »Schluss jetzt! Weg mit euch!«
    Die Wesen stoben auseinander. Offenbar spürten sie meinen Ärger. Dabei war ich nicht böse auf sie. Ich war nur nervös. Etwas, das die Erste Mutter gesagt hatte, machte mir Sorgen. Etwas, an das ich jetzt nicht denken wollte.
    »Wir müssen weiter«, sagte ich. »Hat die Erste Mutter noch etwas gesagt, nachdem ich … bewusstlos wurde?«
    »Ja. Sie meinte, ich solle dich zum Tempel der Wahrheit führen. Und dass du allein dort hineingehen musst.«
    Der Tempel der Wahrheit. Das Orakel in Erics Computerspiel hatte ihn erwähnt. Offenbar spielte er im Spiel und auch hier in der Traumwelt eine wichtige Rolle.
    »Hat sie gesagt, wo dieser Tempel ist?«
    »Dort hinten, nur ein paar hundert Schritte entfernt.« Eric wies mit dem Arm entlang einer Kette von weißen Knochenhügeln, die aus dem Sand ragten wie Trümmer einer riesigen umgestürzten Säule. Die Rücken- und Halswirbel. An ihrem Ende ragte ein riesiger runder Hügel auf. Zwei gewaltige Augenhöhlen ließen keinen Zweifel daran, um was es sich dabei handelte.
    |131| Ich schauderte. »Lass uns gehen.«
    Die Affenwesen folgten uns anfangs in einer großen Prozession, doch etwa hundert

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