Glanz
schlauchartigen Gänge senkrecht nach unten führte, der andere in die Gegenrichtung. Ich kroch steil nach oben. Das Schwindelgefühl beim Ändern der Richtung war mein permanenter Begleiter geworden; ich nahm es kaum noch wahr.
Der Gang verzweigte sich immer häufiger. Gleichzeitig schien das Atmen näher zu kommen. Mein Herz schlug bis zum Hals. Ich kroch, so schnell ich konnte, wahllos mal diese, mal jene Richtung nehmend. Ich war ohnehin hoffnungslos in dieses Labyrinth verstrickt. Alles, was ich wollte, war, dem Wesen zu entfliehen, das hinter mir keuchte. Doch es kam immer näher. Schon glaubte ich, einen warmen, feuchten Hauch in meinem Nacken zu spüren. Ich wandte mich um, doch da war nichts. Trotzdem befiel mich nackte Panik. Ich stürzte mich in einen Gang, der senkrecht nach unten führte.
Diesmal verhielt sich die Schwerkraft nicht so wie bisher: Statt das gewohnte Schwindelgefühl zu empfinden, rutschte ich kopfüber in die Tiefe. Mein Schrei wurde von der weichen, grauen Masse an den Wänden erstickt.
Der Gang machte am unteren Ende eine sanfte Biegung, so dass ich nicht abrupt aufprallte, sondern auf dem glitschigen Untergrund wie auf einer Rutschbahn weiterglitt. In halsbrecherischem Tempo schoss ich hinab. Der Tunnel schien sich jetzt in einer Spirale abwärtszuwinden, die immer enger wurde. Mir wurde schwindlig von den schnellen Drehungen.
Schließlich endete die Rutschpartie in einer Öffnung in der Decke eines schmalen Raumes. Ich fiel etwa zwei Meter tief und schlug hart auf einem Boden auf, der mit Linoleum überzogen zu sein schien. An einer Seite des Raumes befand sich eine weiße Tür.
Ich rappelte mich auf. Mein Körper schmerzte vom |143| Sturz, doch ich war nicht ernsthaft verletzt. Zögernd näherte ich mich der Tür, die so gar nicht zu den aus Stein gehauenen Gängen des Tempels passte.
Ich lauschte. Das Atemgeräusch, das mich in dem Labyrinth verfolgt hatte, war verschwunden. Es herrschte absolute Stille.
Ich hatte plötzlich schreckliche Angst davor, die Tür zu öffnen, ohne dass ich wusste, warum. Doch es gab keinen anderen Weg: Selbst wenn es mir irgendwie gelungen wäre, an das Loch in der Decke zu gelangen, hätte ich niemals an den glitschigen Wänden hochklettern können. Der Trick mit der kippenden Schwerkraft funktionierte hier nicht mehr. Wenn ich jemals aus diesem verdammten Schädel entkommen wollte, musste ich durch diese Tür!
Ich drückte die Klinke herunter.
Der Raum war von kaltem Neonlicht durchflutet. Drei Krankenbetten standen darin. Zwei waren leer. Auf dem dritten lag eine reglose Gestalt. Ein dünnes Laken verhüllte sie. Das obere Ende war über das Gesicht gezogen wie bei einer Leiche.
Neben dem Bett stand ein Mann. Flammen schlugen aus seiner weißen Arztkleidung, tanzten über seine Hände, flackerten auf seinem Kopf wie eine wilde, sturmzerzauste Frisur, leckten über sein Gesicht wie eine sich ständig verändernde Maske. Seine Augen waren nur dunkle Höhlen im Feuer. Er wandte sich zu mir um, und die Andeutung eines dunklen Lächelns erschien in seinem brennenden Antlitz.
»Schön, dass Sie gekommen sind, Anna!« Seine Stimme klang wie das Knistern von Feuer, wie das Zischen der verdampfenden Feuchtigkeit in frischem Holz, wie das Tosen eines Großbrands.
Ich wollte schreien, doch etwas schnürte mir die Kehle |144| zu. Ich wollte mich umdrehen und aus dem Raum fliehen, doch meine Beine gehorchten mir nicht. So konnte ich nur stumm dort stehen und abwechselnd auf den brennenden Mann und auf die reglose, verhüllte Gestalt starren. Nur flüchtig nahm ich wahr, dass jenseits des Fensters eine endlose schwarze Ebene lag, oder vielleicht ein Meer.
Der brennende Mann kam langsam auf mich zu. »Sie brauchen Hilfe, Anna«, sagte er mit seiner schrecklichen, geisterhaften Stimme. »Ich kann Ihnen helfen!«
»Nein, bitte nicht«, hörte ich mich stammeln. »Bitte, bitte nicht!«
Der Mann streckte seine Hand aus. Er berührte mich am Arm. Stechender Schmerz schoss durch meinen Körper. Ich hatte das Gefühl, im selben Moment Feuer zu fangen.
Endlich konnte ich mich bewegen. Ich wandte mich um, versuchte, die Tür zu öffnen, doch ich konnte die Klinke nicht mehr herabdrücken. Es gab keinen Ort, an den ich fliehen konnte. Ich wich in die entfernteste Ecke des Raumes zurück, in eine schmale Nische zwischen einem der leeren Betten und der Wand.
Der brennende Mann kam langsam näher wie ein Raubtier, das sich seiner in die Enge getriebenen Beute
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