Glanz
die vorgeschriebene Emotion zum Ausdruck zu bringen.
»Wie herrlich es doch ist, dass wir diese Frau an unserem Glück teilhaben lassen dürfen!«, rief der Mann in Rotgold. »Möge der Anblick unserer glücklichen Königin ihr Gemüt erheitern!«
Die Gestalt auf dem Thron hatte sich die ganze Zeit nicht gerührt und keinen Ton gesagt. Ich wusste nicht, ob sie durch die Schleier, die ihr Gesicht verhüllten, überhaupt etwas sehen konnte, doch ich hatte das Gefühl, ihr forschender Blick durchbohrte mich.
Der Mann mit der Robe machte einen Schritt auf mich |151| zu und beugte sich ein wenig herab. »Was bringt dich dazu, das Gebot der Glückseligkeit zu missachten, gute Frau?«, fragte er leise, als ob es die verhüllte Königin nicht hören sollte. »Und warum trägst du so ein hässliches schwarzes Gewand? Spürst du nicht das Glück, das diesen Ort durchdringt? Wie kannst du nicht unbändige Freude empfinden beim Anblick unserer glücklichen Königin?«
Ich ignorierte ihn und richtete meinen Blick auf die verhüllte Gestalt. »Wer bist du?«, rief ich.
Ein erschrockenes Luftholen der Anwesenden signalisierte mir, dass ich irgendein Tabu gebrochen hatte. Wahrscheinlich durfte man die Gestalt nicht direkt ansprechen, oder ich hatte den gebotenen Respekt vermissen lassen. Doch das war mir herzlich egal. Ich hatte nicht die geringste Lust, diese Scharade mitzuspielen.
Die Versammelten gaben ein gequältes Lachen von sich. »Hahaha«, rief der Mann in Rotgold. »Die Frau versucht, uns mit ihren Frechheiten zu erheitern! Sehr komisch! Doch wisse, Frau, dass es in diesem Raum keiner Scherze bedarf, denn das Glück, das wir in Anwesenheit unserer Königin empfinden, ist nicht mehr steigerungsfähig!«
Ich ignorierte ihn und wiederholte meine Frage.
Die Gestalt wandte mir den Kopf zu. »Lasst sie frei!«, sagte sie.
Ein Schauer lief über meinen Rücken. Die Stimme klang seltsam vertraut und doch fremd. Wo hatte ich sie schon einmal gehört?
Die Soldaten beeilten sich, dem Befehl zu gehorchen, und nahmen mir die Stricke ab. »Glück und Fröhlichkeit erfüllen mich, wenn ich die Weisheit unserer Königin vernehmen darf!«, rief der Mann in der rotgoldenen Robe. Es klang beinahe hysterisch. Die übrigen Versammelten nahmen |152| den Ruf auf: »Glück und Fröhlichkeit! Glück und Fröhlichkeit!«
Ich erhob mich und schritt auf den Thron zu. »Wer bist du?«, fragte ich zum dritten Mal.
»Geh!«, sagte die Gestalt. »Ich kann die Traurigkeit in deinem Gesicht nicht ertragen!« Ihre Stimme klang matt.
Totenstille herrschte bei diesen Worten. Offenbar wussten die Untergebenen nicht, wie sie sich bei der Erwähnung des Wortes Traurigkeit verhalten sollten. Vielleicht hatte es auch noch nie jemand gewagt, sich seiner Königin so zu nähern, wie ich es jetzt tat.
Ich betrat die Stufen, die auf das Podest hinaufführten. Die Untergebenen besannen sich ihrer Pflicht zu bedingungsloser Heiterkeit und begannen wieder »Glück und Fröhlichkeit!« zu rufen. Es klang wie die verzweifelten Anfeuerungsversuche einer kleinen Gruppe von Basketballfans, deren Mannschaft kurz vor Spielende zehn Punkte im Rückstand liegt.
Ich trat dicht an den Thron. Die Gestalt wandte mir ihren verhüllten Kopf zu. »Tu es nicht!«, sagte sie.
Doch ich streckte meine Hände aus und hob den Schleier an, der ihr Gesicht verhüllte.
Leere blassblaue Augen blickten mir entgegen. Sie schienen so fern jeder Hoffnung, dass mein Magen sich bei ihrem Anblick verkrampfte. Die Wangen waren eingefallen, der Mund schmal und zusammengepresst. Einzelne Strähnen blonder Haare quollen unter dem weißen Tuch hervor.
Ich kannte dieses Gesicht, kannte es nur zu gut. Ich sah es jeden Morgen im Spiegel.
Meine Knie wurden weich. Die Welt schien zu verblassen. Ich riss mich zusammen, konzentrierte mich auf das Gesicht und diese leeren Augen. Ich durfte die Traumwelt nicht verlassen, nicht jetzt.
|153| »Finde Eric«, sagte mein Ebenbild mit dieser matten Stimme, als seien es die letzten Worte, die auszusprechen sie noch die Kraft besaß. »Bring ihn zum Tor des Lichts. Dort musst du eine Entscheidung treffen.« Plötzlich reckte sich eine Hand aus dem Gewand hervor. Sie betastete mein Gesicht, als könne sie ebenso wenig glauben, was sie sah, wie ich selbst. »Wähle den richtigen Weg«, sagte sie leise.
»Was für eine Entscheidung?«, wollte ich wissen. »Wel cher Weg? Und wo ist Eric?« Ich hatte noch viel mehr Fragen. Doch die Frau, die ich selbst war und
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