Glanz
ich die fragliche Tür. »Notaus gang « stand darüber. »Nur im Notfall öffnen.«
Wenn das hier kein Notfall war, war der Begriff sinnlos. Ich drückte die Türklinke herab. Ein schnarrender Alarmton erklang, aber die Tür ließ sich öffnen. Ich blickte wieder auf die Leuchtreklame mit dem Medikament. Die griechischen Schriftzeichen erschienen mir jetzt wie ein Warnhinweis: Dies war nicht wirklich New York, nur eine Vision davon.
Ich trat durch die Tür und drehte mich um. Ich sah nur den Gang mit den Toiletten. Keine Spur von einem Tor in eine fremde Dimension.
Ich unterdrückte die Verzweiflung, die erneut in mir aufsteigen wollte. Immerhin war mir die Entscheidung abgenommen worden, ob ich in dieser Welt nach Eric suchen sollte. Und war es nicht viel wahrscheinlicher, dass ich seinen Geist hier finden würde, in seiner Version der Stadt, in der er aufgewachsen war, als in irgendeiner fremdartigen Welt?
Mit großen Augen wanderte ich den Broadway entlang. Ich war oft hier gewesen, und doch sah ich diesen Ort jetzt mit ganz anderen Augen. Ich fragte mich, wie groß |259| die Übereinstimmung dieser Version Manhattans mit dem Original war. Auf den ersten Blick konnte ich keinen Unterschied feststellen. Die Leuchtreklamen warben – mit Ausnahme des seltsamen griechischen Medikaments – für Produkte, die ich kannte; auch die Stücke, die in den Musicaltheatern gespielt wurden, schienen aktuell zu sein. Ich war allerdings schon eine Weile nicht mehr hier gewesen und wusste nicht, ob Walt Disneys »Tarzan« tatsächlich immer noch lief. Ich hatte dieses Stück mit Eric gesehen. Das war an seinem siebten Geburtstag gewesen. Es schien erst ein paar Monate her zu sein.
Natürlich war die Straße voller Menschen. Hier herrschte die ganze Nacht hindurch Betrieb.
Zwischen den Passanten auf dem Bürgersteig fiel mir eine weiße vierbeinige Gestalt auf. Ich dachte erst an einen Hund, aber dafür bewegte sich das Tier nicht richtig, und der Kopf war falsch. Es war ein kleines Schaf. Ein Lamm. Es spazierte zwischen all den Menschen herum, als sei das ganz normal, aber es schien niemandem zu gehören – jedenfalls hatte es kein Halsband um.
Ich blieb stehen. Das Lamm stoppte ebenfalls, wandte sich um und blickte mich mit niedlichen schwarzen Augen an. Dann legte es sich mitten auf den Bürgersteig. Die Menschen gingen daran vorbei, offenbar ohne es wahrzunehmen. Einige stiegen darüber hinweg, würdigten das Tier jedoch keines Blickes.
Der Titel eines Rockalbums stieg aus meiner Erinnerung empor: »The Lamb Lies Down on Broadway.« Von wem war die Platte gewesen? Pink Floyd? Yes? Genesis? Auf jeden Fall eine dieser Vinylscheiben aus den Siebzigern, die Ralph so gern gehört hatte, als wir uns kennenlernten. Später hatte er sie nur noch selten aufgelegt und war auf Jazz umgeschwenkt. Ich hatte nicht gewusst, dass |260| Eric jemals mit dieser Musik in Berührung gekommen war, aber irgendwie musste die Textzeile wohl den Weg in sein Unterbewusstsein gefunden haben. Vielleicht hatte er irgendwann Ralphs Kisten mit alten Vinylscheiben durchwühlt.
Ich wechselte die Straßenseite, um nicht an dem Lamm vorbeigehen zu müssen, und überlegte, was ich jetzt tun sollte. Wenn die Tür, durch die ich hierhergekommen war, das Tor des Lichts gewesen war, dann hatte es Eric offenbar noch nicht gefunden, denn ich befand mich immer noch in seiner Phantasiewelt. Wenn er aber hindurchgeschritten war …
Ich hob einen Arm. Augenblicklich hielt ein Taxi neben mir. Der Fahrer, ein freundlicher junger Mann, fragte mich in akzentfreiem Englisch, wohin ich wolle. Ich nannte ihm die Adresse unseres Apartments im East Village. Wir kamen mühelos durch den Verkehr, und nach kaum zehn Minuten setzte mich der Fahrer vor unserer Haustür ab, ohne auf dem Weg auch nur ein einziges Mal geflucht zu haben. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass dieses New York nicht real war, dann hatte ich ihn jetzt.
Ich stellte fest, dass ich kein Geld bei mir hatte – ich trug immer noch das weite schwarze Gewand –, und bat den Fahrer, kurz zu warten. Er meinte, das sei schon in Ordnung, und fuhr ohne Murren davon.
Mit klopfendem Herzen ging ich die Treppen hinauf, bis ich vor unserer Wohnungstür stand. Mir wurde klar, dass ich keinen Schlüssel hatte. Ich klingelte. Halb erwartete ich, dass sich die Tür öffnen und ich in mein eigenes überraschtes Gesicht blicken würde. Doch nichts dergleichen geschah.
Nachdem ich ein zweites Mal geklingelt
Weitere Kostenlose Bücher