Glanz
lebendigen Aquarell. Offenbar war es eine Nachwirkung der Droge, dass man Träume bekam, die einem vollkommen wirklich vorkamen. Der Gedanke durchzuckte mich, wie es wäre, wenn ich eine Überdosis der Droge nehmen und einfach den schönen Traum von gerade eben weiterträumen würde.
Die elektrische Melodie des Türgongs erklang erneut. |267| Ich musste sie im Schlaf gehört und in meinen Traum eingebaut haben. Aber wer konnte jetzt, mitten in der Nacht, bei Tante Jo klingeln? Hatte uns Dr. Ignacius irgendwie aufgespürt? Mit klopfendem Herzen stand ich auf und öffnete die Zimmertür einen Spaltbreit.
Schlurfende Schritte kamen die Treppe herab, die Haustür wurde geöffnet. »Sammy!«, hörte ich Tante Jo. »Was machst du denn hier? Es ist mitten in der Nacht! Ist was passiert?«
»Entschuldigen Sie bitte die Störung, Mrs. Derringer. Es ist nur … ich bin Streife gefahren und zufällig an Ihrem Haus vorbeigekommen, und da hab ich diesen Wagen da draußen gesehen, und …«
»Welchen Wagen?«, fragte Tante Jo. In ihrer Stimme lag jetzt eine amüsierte Autorität, als ob sie die Frage lächerlich fände.
Der Polizist namens Sammy klang verunsichert. »Der Ford mit dem New Yorker Kennzeichen. Er gehört einem gewissen Paul Morrison.«
»Und?«
»Er … er steht auf unserer Fahndungsliste, Mrs. Derringer. Der Wagen, meine ich.«
»Das Auto gehört dem Mann von Emily. Du erinnerst dich doch an die kleine Emily, Sam? Ihr seid zusammen zur Schule gegangen. Sie ist bei uns zu Besuch.«
»Mrs. Derringer, es tut mir leid … da liegt vielleicht ein Irrtum vor, aber wie gesagt, der Wagen steht auf unserer Fahndungsliste. In Zusammenhang mit einem Entführungsfall.«
Tante Jo stieß ein heiseres Lachen aus. »Eine Entführung! Wer soll denn entführt worden sein?«
»In New York wurde ein todkranker Junge aus einem Krankenhaus verschleppt. Es besteht der dringende Verdacht, |268| dass Mrs. Morrison … dass Emily in den Fall verwickelt ist. Mrs. Derringer, ich muss Sie leider bitten …«
»Verschleppt? Soweit ich weiß, wurde der Junge von seiner eigenen Mutter aus dem Krankenhaus geholt. Sie hatte jedes Recht dazu!«
»Ich … ich kenne nicht alle Einzelheiten, Mrs. Derringer. Aber es liegt eine richterliche Anordnung vor, dass der Junge unverzüglich zurück in das New Yorker Krankenhaus gebracht werden muss, notfalls auch gegen den Willen seiner Mutter. Beide wurden zur Fahndung ausgeschrieben. Es … es gibt wohl Grund zu der Annahme, dass die Mutter unzurechnungsfähig ist!«
»Sammy, erinnerst du dich noch an die Sache mit dem Zuchtbullen, der irgendwie aus dem Stall von Michael Brown ausgerissen ist und ein Verkehrschaos verursacht hat? Der Sachschaden, den das Vieh damals anrichtete, bevor es der Sheriff erschoss, betrug über zwanzigtausend Dollar, wenn ich mich nicht irre.«
Einen Moment Zögern. »Natürlich erinnere ich mich, Tante … ich meine, Mrs. Derringer. Aber was hat das …«
»Ich sage dir jetzt was, Sammy. Du vergisst, was für ein Auto da draußen steht, und ich vergesse, dass ich gesehen habe, wer damals mit dem Bolzenschneider, der neben dem Schuppen lag, das Schloss zu Mike Browns Stall geknackt hat.«
»Aber Mrs. Derringer, ich war damals fünfzehn. Die Sache ist längst verjährt, und diesmal geht es nicht um ein paar verbeulte Autos, sondern um das Leben eines Jungen, der dringend medizinische Hilfe benötigt! Ich kann nicht einfach …«
Tante Jo legte ihre gesamte Autorität in ihre Stimme. »Ich sage dir, worum es hier geht, Sammy! Es geht hier um das Recht einer Mutter, ihren Sohn zu retten, und um |269| eingebildete Ärzte, die glauben, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben. Es geht hier darum, ob wir die Dinge so regeln, wie wir sie in Huntingdon County immer geregelt haben, oder so, wie es irgendein Behördenarsch in einem verfluchten Großstadtkrankenhaus gern hätte!«
»Mrs. Derringer, ich bin nun mal Polizist!« Sammys Stimme klang beinahe verzweifelt. »Ich bin an die Gesetze gebunden, und …«
»Samuel Johnson, ich war als junges Mädchen im Krieg auf Hawaii, und obwohl ich erst sechzehn war, habe ich als Krankenschwester nach dem Angriff der Japse mehr Menschen gerettet als jeder Arzt in irgendeinem New Yorker Krankenhaus in einem ganzen Jahr! Ich habe deiner Mutter geholfen, dich auf die Welt zu bringen, und das war keine einfache Geburt, das kannst du mir glauben. Ich habe in meiner Zeit jede Menge Krankheit und Tod gesehen, und ich sage dir eins:
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