Glanz
und ein paar Minuten gewartet hatte, ging ich zu unserer Nachbarin, |261| Mrs. Turner. Ich hatte nur eine ungefähre Ahnung, wie spät es war. Vermutlich klingelte ich sie aus dem Bett, aber das war nicht zu ändern.
Sie war noch angezogen. Ihr für eine Sechzigjährige übertrieben geschminktes Gesicht verzog sich zu einem Ausdruck des Erstaunens. »Anna! Wie … waren Sie auf einem Kostümfest?«
»Ja«, sagte ich. »Und ich habe dort meine Handtasche verloren. Könnten Sie mir bitte den Ersatzschlüssel geben?«
»Ihre Handtasche? Sie Ärmste! Hoffentlich hatten Sie nicht allzu viel Geld dabei. Mir ist das auch schon mal passiert. Hab das verdammte Ding in der U-Bahn stehenlassen. War ’ne ganz schöne Lauferei damals, um meinen Führerschein und die Versicherungskarte wiederzukriegen. Und dann, als ich endlich all den Papierkram erledigt hatte, rief das Fundbüro an und sagte, meine Handtasche sei abgegeben worden. Stellen Sie sich vor, alles war noch drin, sogar das Bargeld! Ich hab nie rausbekommen, wer die Tasche abgegeben hat, aber seit damals weiß ich, dass die Welt nicht so schlecht ist, wie die Medien uns immer weismachen wollen.«
Das Geplapper war so typisch für Mrs. Turner, dass ich kaum glauben konnte, nicht in der Realität zu sein. Eric war offensichtlich nicht nur phantasiebegabt, sondern auch ein guter Beobachter. Sie händigte mir den Schlüssel aus, den ich ihr für Notfälle gegeben hatte, und fragte mich, ob sie mir noch irgendwie helfen könne.
Einem Impuls folgend fragte ich sie, ob sie Eric in letzter Zeit gesehen habe.
»Eric? Ist der nicht im Krankenhaus?«
Ich nickte. »Ja, natürlich, das ist er. Entschuldigen Sie, ich bin ein bisschen durcheinander.«
|262| »Sie sehen nicht gut aus, Anna. Sie sollten sich mal ein bisschen Ruhe gönnen.«
»Das werde ich. Vielen Dank, Mrs. Turner.«
»Keine Ursache. Und gute Besserung an Eric!«
Ich wandte mich ab und brauchte länger als gewöhnlich, um den Schlüssel ins Schloss zu bekommen.
Der vertraute Geruch unserer Wohnung traf mich wie ein Faustschlag in den Magen. »Eric?«, rief ich. Doch nur Stille empfing mich.
Alles war so, wie ich es zurückgelassen hatte. Der Kühlschrank war voll, die Haltbarkeitsdaten auf den Lebensmitteln nicht abgelaufen – jedenfalls, wenn ich das Datum zugrunde legte, das in der Realität, in Steephill, herrschte. Ich ging in Erics Zimmer. Der Laptop stand aufgeklappt auf seinem Schreibtisch, der Bildschirm war schwarz. Ich überlegte, ob ich ihn hochfahren sollte, doch ich fühlte mich plötzlich tief erschöpft, so als hätte ich seit Tagen nicht geschlafen, was möglicherweise der Wahrheit entsprach. Ich legte mich auf Erics Bett. Ich wollte nur ein wenig ausruhen und darüber nachdenken, was ich jetzt tun konnte, aber mir fielen fast im selben Moment die Augen zu.
|263| 29.
Ich erwachte in meinem eigenen Bett. Verwirrt sah ich auf den Radiowecker, aus dem Popmusik plärrte. Es war sieben Uhr. Ich musste in der Nacht aufgewacht und hierhergegangen sein, vielleicht, weil mir Erics Bett zu unbequem gewesen war – seine Matratze war ungewohnt hart. Merkwürdig war nur, dass ich statt des schwarzen Gewands ein seidenes Nachthemd trug. Ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern, mich umgezogen zu haben.
Sei’s drum. Ich fühlte mich jedenfalls ausgeruht wie schon lange nicht mehr. Ich streckte mich, schaltete den Wecker aus und stand auf. Wenn ich schon mal hier in diesem Phantasie-Apartment war, konnte ich auch die Phantasie-Dusche benutzen. Ich ging also ins Bad und genoss das warme Wasser auf meiner Haut. Danach zog ich etwas Bequemes an – Jeans, ein dunkelblaues T-Shirt und Turnschuhe. Ich sah mich um, konnte aber das schwarze Gewand nirgends entdecken. Vielleicht lag es noch in Erics Zimmer.
Ich öffnete seine Tür und erstarrte. Ein leises, qualvolles Geräusch entrang sich meiner Kehle.
Eric saß an seinem Schreibtisch, den Oberkörper über seinen eingeschalteten Laptop gebeugt, den Kopf mit den ungebändigten blonden Locken auf der Tischplatte. Ein Arm hing schlaff herab, die Hand des anderen umfasste die Maus. Nur das bräunliche Licht des Bildschirms erhellte den Raum. Er zeigte eine von dornigen Sträuchern bewachsene Wildnis aus der Vogelperspektive. In der |264| Mitte lag ein lebloser Körper in der glänzenden Bronzerüstung eines antiken Helden. Schwarze Vögel saßen auf der Leiche und pickten daran. Darunter hatte sich ein Eingabefenster mit drei Schaltknöpfen
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