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Glashaus

Titel: Glashaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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entlang. Ich habe Angst zusammenzuklappen, wenn ich einen Blick zurückwerfe. Es gibt überhaupt nichts, was ich an der Situation ändern kann, dennoch fühle ich mich irgendwie besudelt, als wäre ich eine Mittäterin. Was Fiore betrifft … Den erwischt es schon noch. Früher oder später kriege ich ihn dran. Doch im Augenblick werde ich mir eher die Zunge abbeißen, als irgendetwas zu der Sache zu äußern, denn ich habe da so ein Gefühl, dass er diese kleine Schau nur abgezogen hat, um uns eine Lektion zu erteilen. Eine Lektion darüber, wie sich totalitäre Machtstrukturen herausbilden. Und derzeit sind alle Spione und Denunzianten mit Sicherheit hellwach, um nach Zeichen des Abweichlertums Ausschau zu halten.

    Als wir zehn Minuten gegangen sind und die entsetzliche Schlachtorgie einen Kilometer hinter uns liegt, zerre ich an Sams Arm. »Lass uns ein bisschen langsamer machen, damit wir wieder zu Atem kommen. Jetzt brauchen wir nicht mehr zu rennen.«
    »Zu Atem …« Sam starrt mich an. »Und ich dachte, du wärst wütend auf mich.«
    »Nein, mit dir hat das nichts zu tun.« Ich gehe weiter, jetzt allerdings langsamer.
    Er legt mir die Hand auf den Arm. »Wir haben nicht mitgemacht.«
    Ich nicke, ohne etwas zu erwidern.
    »Drei Viertel der Leute dort waren genauso entsetzt wie wir. Aber nachdem es erst mal angefangen hatte, konnten wir es nicht mehr verhindern.« Er schüttelt den Kopf.
    Ich hole tief Luft. »Ich bin auf mich selbst sauer, weil ich nicht Stellung bezogen habe, als noch Zeit dafür war. Man kann einen Mob austricksen, wenn man genau weiß, was man tut. Aber wenn die Leute sich dann gruppenweise in Bewegung setzen, ist es wirklich schwer, sie zurückzuhalten. Fiore hätte das gar nicht lostreten müssen, aber er hat’s getan - so, als hätte er einen Gartengrill mit Benzin angeheizt.« Gartengrill und Benzin sind Begriffe, die ich erst seit Kurzem kenne. »Und nach dieser Predigt und der Übertragung der Punkte von einer Gruppe zur anderen hätte er es gar nicht mehr verhindern können, selbst wenn er’s gewollt hätte.«
    »Du klingst so, als glaubtest du, es sei eine Angelegenheit freier Wahl.« Ich werfe ihm einen Blick aus den Augenwinkeln zu. Sam ist nicht blöde, aber normalerweise neigt er nicht zu abstrakten Gedankengängen. »Meinst du wirklich, du hättest es verhindern können? Es ist in dieser Gesellschaft angelegt, Reeve. Man hat uns in eine Situation gezwungen, die Menschen leicht dazu bringen kann, für eine abstrakte Idee zu töten. Du hast Jen doch gesehen. Glaubst du wirklich, du hättest sie aufhalten können, als sie erst einmal in Fahrt war?«
    »Ich hätte ihr ein Messer in die Rippen rammen sollen.« Einige Sekunden lang stapfe ich weiter, ohne etwas zu sagen. »Wahrscheinlich hätte das auch nichts genützt. Du hast ja recht, aber deshalb fühle ich mich auch nicht besser.«
    Langsam gehen wir die Straße entlang und schmoren in unserem Sonntagsstaat in der Mittagshitze eines künstlichen sonnigen Spätfrühlingstages. Im hoch aufgeschossenen Gras, das sich bereits gelb färbt, krächzen die wirbellosen Tiere, und über uns rascheln die Blätter der Laubbäume im leichten Wind. In der warmen Luft kann ich den Duft von Salbei und Magnolien riechen. Vor uns taucht die Straße in eine Unterführung ab, die zu einem der Tunnel mit integrierten T-Toren führt, die die wahre Geometrie unserer von innen nach außen gestülpten Welt verbergen. Sam holt seine Taschenlampe heraus und lässt sie an ihrer Schlaufe vom Handgelenk herunterbaumeln.
    »Ich hab auch früher schon Mobs erlebt«, bemerke ich. Wenn ich das nur vergessen könnte. »Sie entwickeln eine ganz eigene Dynamik.« Ich fühle mich schwach und mitgenommen, als ich darüber nachdenke, mir den Gesichtsausdruck von Phil vor Augen halte, den ich kaum kannte, und mir die gespenstische Menschenmenge in ihrer Gier vorstelle. Und Jens hämisches Vergnügen. »Sobald ein bestimmter Punkt überschritten ist, kannst du nur machen, dass du wegkommst und nichts mit dem zu tun hast, was als Nächstes passiert. Wenn das jeder täte, gäb’s keine Mobs.«
    »Vermutlich nicht.« Sams Stimme klingt gedämpft, da wir gerade in den Halbschatten des Tunnels eintauchen. Als er die Taschenlampe einschaltet, tanzt deren Lichtkegel vor uns wie verrückt auf und ab, denn die Straße macht hier eine Linksbiegung.
    »Selbst ein Idiot, der das Schwert zückt und sich für einen Helden hält, kann allein, nur auf sich gestellt einen solchen

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