Glashaus
meisten nehmen ein Taxi zur Kirche und werden ihre Häuser erst verlassen, wenn wir fast schon am Ziel sind.
Der Gottesdienst wirkt anfangs ernüchternd auf mich, allerdings bin ich wahrscheinlich die Einzige, die ihn so empfindet. Nachdem Fiore als Vorsänger die Gemeinde in eine schwülstige Version von First We Take Manhattan mitgerissen hat, hebt er zu einer langatmigen Predigt an, in der er sich über das Wesen von Gehorsam und Verbrechen, unseren Platz in der Gesellschaft und wechselseitige Pflichten auslässt.
»Denn die Wahrheit, wer wollte das bezweifeln, liegt doch darin, dass man uns hierher entsandt hat, damit wir die Vorzüge der Zivilisation genießen können und gleichzeitig eine großartige Gesellschaft aufbauen. Eine Gesellschaft, in der es unsere Kinder einmal besser haben sollen als wir und wir alle zu moralischer Sauberkeit gelangen!«, wettert er von der Kanzel herunter. Sein glasiger Blick ist auf eine Unendlichkeit gerichtet, die unmittelbar jenseits der hinteren Wand zu lauern scheint. »Und leuchtet es nicht ein, dass wir dieser Ziele wegen unsere soziale Ordnung verteidigen müssen - eine Ordnung, die den irdischen Vorläufer der Platonischen Idealgesellschaft darstellt? Müssen wir diese Gesellschaft nicht schützen, damit ihr Raum zum Reifen bleibt und wir die Früchte Utopias ernten können?« Ein echter Geiferer , denke ich mit mulmigem Gefühl. Ich frage mich, worauf er hinauswill. In der Reihe hinter mir scharren die Leute bereits mit den Füßen. Ich bin hier nicht die Einzige, die ein schlechtes Gewissen hat.
»Und wenn das alles zutrifft, dürfen wir dann jemanden in unserer Gemeinschaft dulden, der gegen deren Grundregeln verstößt? Sollen wir aus Rücksicht auf das Feingefühl des Sünders davon absehen, Sünden anzuprangern? Oder etwa aus Rücksicht auf das Zartgefühl jener Menschen, die unwissentlich Seite an Seite mit diesem Fleisch gewordenen Sündenpfuhl leben?«
Jetzt kommt’s. Ich habe so entsetzlich böse Vorahnungen, dass sich mir der Magen umdreht; gleich wird Fiore mich bloßstellen. Sicher geht es um mehr als um ein aus der Stadtbibliothek geklautes Buch. Ich habe das niederschmetternde Gefühl, dass Fiore inzwischen über alles Bescheid weiß: über den Schlüsselabdruck in der Seife, den Gips und die Gussformen, die ich für den Nachschlüssel gerade vorbereite.
»Nein!«, donnert Fiore von der Kanzel. »Das darf nicht sein!« Er traktiert das Geländer mit der Faust. »Doch zu meinem Kummer muss ich sagen, dass genau das hier zutrifft: Esther und Phil begehen nicht nur Verrat an ihren Seelen, indem sie es auf übelste Weise hinter dem Rücken ihrer nichts ahnenden und missbrauchten Ehegatten miteinander treiben, sie begehen auch Verrat am Gefüge dieser Gesellschaft!«
Wie bitte? Er hat’s also gar nicht auf mich abgesehen. Doch der Schauer der Erleichterung hält nicht lange an. Angeführt von der Schar Drei, deren Mitglieder Esther und Phil Hochwürden Fiore gerade eines Verbrechens beschuldigt hat, erhebt sich in der Gemeinde lautes, wütendes Gemurmel. Alle anderen blicken sich um, auch ich tue es - im Moment könnte es sich als gefährlich erweisen, gegen den Strom zu schwimmen - und entdecke zwei Reihen hinter mir ein erregtes Menschenknäuel: Wohlgekleidete Kirchgänger gehen aufeinander los. Eine verängstigte Frau und ein trotzig wirkender Mann mit dunklem Haar blicken sich besorgt um; sie vermeiden den Blickkontakt und versuchen stattdessen … Ja, während Fiore weiterschwallt, suchen sie nach einer Fluchtmöglichkeit. Doch irgendetwas sagt mir, dass es dafür zu spät ist.
»Insbesondere möchte ich Jen dafür danken, dass sie mir diese Angelegenheit zu Gehör gebracht hat«, fährt Fiore ungerührt fort. Meine Netzverbindung läutet und zeigt an, dass mehr Punkte bei mir eingegangen sind, als ich normalerweise in einem ganzen Monat machen könnte - eine Anpassung nach oben, die ich allein der Tatsache verdanke, dass ich derselben Schar angehöre wie diese miese Denunziantin. Sie hat mit der Anschuldigung des Ehebruchs Spitzenpunkte erzielt. »Und ich frage euch: Wie sollen wir mit diesem Sündenpfuhl in unserer Mitte verfahren?« Von der Kanzel aus mustert Fiore sein Publikum. »Was müssen wir unternehmen, um unsere Gesellschaft zu säubern?«
Mein grässliches Gefühl böser Vorahnung ist wieder da, noch stärker als zuvor. Das hier wird sehr viel schlimmer werden als alles, was ich erwartet habe. Normalerweise pickt sich Fiore eine
Weitere Kostenlose Bücher