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Glashaus

Titel: Glashaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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durchschaut. Im Vergleich zu dem Waffenarsenal, das ich früher benutzt habe, ist das Messer zwar mehr als jämmerlich, aber besser als gar nichts.
    Und so bleibe ich wie eine spröde, tüchtige Bibliothekarin hinter dem Tresen sitzen und schwelge in verrückten Fantasien (in denen ich dem Priester mit einem Schnitzmesser den Kopf abtrenne), während ich darauf warte, dass Fiore wieder aus dem Archiv auftaucht.
    Kleine Schweißbäche rinnen mir am Rücken herunter. Über den vorderen Hof blicke ich zur Schnellstraße hinüber und sehe zu, wie das Muster aus Licht und Schatten, das die Blätter der Kirschbäume links und rechts des Weges werfen, sich verändert und auf dem Betonpflaster neu zusammenfügt. Erneut gehe ich die spärlichen Informationen durch, die mir zur Verfügung stehen, und davon schwirrt mir der Kopf. Verbergen meine Gedächtnislücken Dinge vor mir, die ich wissen müsste?
    Einige der Rätsel lauten: Warum sollten drei verschollene Experten der psychologischen Kriegsführung, die im Chaos nach dem Niedergang der Republik Is zum Gegner übergelaufen sind, ausgerechnet innerhalb dieses Experiments wieder auftauchen? In einem Versuch, der eine historische Epoche nachstellen soll, über die wir im Grunde nichts wissen? Und warum enthält der Aktenschrank in der Stadtbücherei etwas, was aussieht wie eine auf Papier ausgedruckte Kopie des Bytecodes von Curious Yellow? Warum kann ich die Wörter »ich liebe dich« nicht hören, wenn jemand sie ausspricht? Warum leide ich dann und wann unter vorübergehendem Gedächtnisausfall? Warum befindet sich im Keller ein unabhängig arbeitendes A-Tor? Und was macht Fiore damit? Und warum möchte Yourdon, dass wir jede Menge Babys bekommen?
    Ich weiß es nicht. Aber es gibt eine Sache, die mir hundertprozentig klar ist: Dieser Abschaum hat früher für Curious Yellow oder eine der Diktaturen über Bewusstsein und Wahrnehmung gearbeitet, und die ganze Situation hier hat mit den Nachwirkungen der Zensurkriege zu tun. Ich bin hier, weil mein früheres Ich, der skrupellose Kerl mit der Schreibfeder, die er sich aus dem eigenen Oberschenkelknochen geschnitzt hat, schlimme Vermutungen hegte, die genau in diese Richtung gingen. Doch die Teile der Erinnerung, die ihn verraten hätten, musste er löschen, um mich durch die Firewalls von Yourdon, Fiore und Hanta schleusen zu können. Und genau diese Teile benötige ich, um die Situation zu erfassen.
    Das ist nicht nur frustrierend, sondern auch sehr beunruhigend, da hier weit mehr auf dem Spiel steht als die persönliche Sicherheit - unabhängig davon, ob sie von den Versuchsleitern oder den anderen Opfern bedroht wird. Ich habe eine leise Ahnung von dem Kummer und dem Leid, das Curious Yellow beim ersten Ausbruch verursacht hat. Und davon, welch entsetzlichen Kampf es gekostet hat, das Netzwerk des Wurms mit seiner offenen und verborgenen Fracht zu zerschlagen und jeden einzelnen Assembler zu säubern. Curious Yellow hat das zersprengt, was früher einmal eine miteinander verbundene interstellare Zivilisation war, hat diese Zivilisation ins Chaos gestürzt und zu unzähligen zersplitterten Gemeinwesen aufgelöst. Wie nur ist es uns gelungen, dem Einhalt zu gebieten?
    Schritte. Es ist Fiore, der auf den Ausgang der Bücherei zusteuert, und er sieht merkwürdig selbstzufrieden aus.
    »Fertig, Pater?«, rufe ich.
    »Für heute ja.« Er neigt mir den Kopf zu, eine scheinbar wohlwollende Geste, die auf mich aber nur wichtigtuerisch wirkt. Gleich drauf runzelt er die Brauen. »Ach ja, Reeve, ich nehme an, Sie waren an der Sache gestern Nacht beteiligt?«
    Meine linke Hand spannt sich um den Griff des Messers in meiner Tasche. »Ja.« Ich starre ihn an, bis er den Blick abwendet. »Wissen Sie, was Mick Cass angetan hat?«
    »Jedenfalls weiß ich, dass …« - irgendetwas scheint ihm plötzlich einzufallen, sodass er mitten im Satz einen Richtungsschwenk vornimmt -, »dass es wirklich eine ernste Sache ist, in das heilige Sakrament der Ehe einzugreifen. Doch unter bestimmten Umständen mag es zu rechtfertigen sein.« Er starrt mich aus Eulenaugen an. »Sie war schwanger, wissen Sie.«
    »Und?«
    Offenbar deutet er meine Miene als Verwirrung, denn gleich darauf erklärt er: »Hätten Sie sich nicht eingemischt, hätte sie das Kind vielleicht verloren.« Er blickt auf seine Uhr. »Jetzt müssen Sie mich entschuldigen, ich habe einen Termin. Schönen Tag noch.«
    Und schon schießt er zur Tür hinaus, sodass ich ihn nur noch von hinten

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