Glashaus
es, der dieses endlose atonale Glockenspiel, das mich hierhergerufen hat, in Gang gesetzt hat. Wobei mir sofort klar wird, dass er das keineswegs freiwillig getan hat. An den Fersen ist er an einem Glockenseil aufgehängt, sodass sein Kopf in einer ewigen Pendelbewegung über den Boden schleift und dort parallel verlaufende Blutspuren hinterlässt. Jemand hat seine Arme am Körper festgebunden, ihn geknebelt und ihm Nadeln in jedes Ohr gerammt, die tief unter die Haut gedrungen sind. Ständig tropfen diese Kanülen und entziehen seinem purpurroten Kopf das letzte angestaute Blut. Das Blut hat Schleifen, Spiralen und Wirbel gebildet und sich zu einem filigranen Muster zusammengefügt, doch aufgrund einer Unebenheit im Fußboden fließen die Rinnsale abwärts und haben sich an der Tür zu einer Pfütze gesammelt.
Mir geht alles Mögliche gleichzeitig durch den Kopf: Ich empfinde Ekel, bin sprachlos vor Bewunderung für die ausgefeilte Technik, die hier zur Schau gestellt wird, habe Angst, dass der oder die Mörder vielleicht immer noch am Tatort lauern, und widere mich selbst an, weil dieses Ende von Mick mich im Innersten befriedigt. Also tue ich das einzig Vernünftige und in sozialer Hinsicht Zweckmäßige, das mir in den Sinn kommt, und schreie mir die Lunge aus dem Hals.
Der Erste, der zwei Sekunden später am Tatort eintrifft, ist mir keine große Hilfe: Nach einem einzigen Blick auf den schwingenden Kronleuchter, in den sich Mick nicht ganz freiwillig verwandelt hat, wird ihm so schlecht, dass er sein Mittagessen von sich gibt und die Pfütze damit anreichert. Doch der Nächste, der am Tatort auftaucht, entpuppt sich als Martin, einer der Männer, die von sich aus bei der Bestattung von Phil und Esther geholfen haben. »Reeve? Alles in Ordnung mit dir?«
Ich nicke und schaffe es, trotz der Schluchzer irgendwie Luft zu holen. Allerdings fühle ich mich wackelig auf den Beinen, und mein Sichtfeld ist getrübt. »Sieh mal«, ich deute auf Mick. »Du holst wohl besser die … die … Hol Fiore. Er wird wissen, was zu tun ist.«
»Ich rufe die Polizei.« Vorsichtig geht Martin um die Pfütze aus Blut und Kotze herum und greift nach dem Telefon, das am Eingang zur Sakristei fest installiert ist. »Hallo? Zentrale?« Er drückt auf die Gabel oben am Fernsprecher. »Seltsam.«
Nach und nach beginnt mein Gehirn wieder zu arbeiten. »Was ist seltsam?«
»Das Telefon ist tot, es funktioniert nicht.«
Schniefend wische ich mir die Nase am Jackenärmel ab und starre ihn an. »Das ist wirklich seltsam.« Ja, sagt eine leise Stimme in meinem Innern, das ist wirklich seltsam und hat nichts Gutes zu bedeuten . »Lass uns ins Freie gehen.«
Andrew, der Mann, dem schlecht geworden ist, hat sich inzwischen ausgekotzt, es sind nur noch Schluchzer und würgende Geräusche zu hören. Martin nimmt ihn beim Arm und zieht ihn mit sich. Als wir gemeinsam nach draußen treten, sehen wir, dass sich auf dem Vorhof bereits eine Menschenmenge gesammelt hat, die wissen will, was los ist. »Jemand soll die Polizei benachrichtigen!«, ruft Martin. »Holt den Priester, falls ihr ihn auftreiben könnt!« Die Menschen drängen sich an ihm vorbei, um in den Turm zu blicken, schreien fassungslos auf und kommen gleich wieder heraus.
Irgendjemand will uns, der Gemeinde, eine Botschaft übermitteln, stimmt’s? Ich stolpere, schaffe es aber bis zum Rasen, wo Sam mit besorgter Miene steht. »Du warst während des Gottesdienstes mit mir zusammen«, zische ich ihm zu. »Du hast die ganze Zeit neben mir gesessen. Du weißt, wo ich war.«
»Ja?« Er wirkt ebenso verwirrt wie ich mich fühle. Ich weiß nicht genau, warum ich das tue, aber …
»Erst hab ich kurz mit Jen gesprochen und gleich darauf die Glocken gehört, deshalb bin ich zum Turm gegangen, um nachzusehen, was los ist. Und dann hab ich losgebrüllt. Ich war nur eine Sekunde lang allein im Turm, kannst du das bestätigen?«
Endlich kapiert Sam. Plötzlich spannen sich seine Schultern an. »Wie schlimm ist es denn?«
»Es ist Mick«, quetsche ich leise heraus, doch danach verschlägt es mir die Sprache. Ich kann jetzt einfach nicht weiterreden, weil ich ja unbedingt genau hinsehen musste. Und dabei vor Augen hatte, wie der Mörder Mick bei den Fersen am Glockenseil aufgehängt hat, ihn danach aufschlitzte und das dicke Seil durch den tiefen Schnitt im Fleisch zwischen Knochen und Sehne hindurchführte. Fast befürchte ich, dass man, sobald irgendjemand Mick vom Seil schneidet,
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